„Die Klimapolitik ist nicht auf Kurs“
Stefan Paravicini.
Herr Müller, die Eröffnungsbilanz der neuen Bundesregierung zum Klimaschutz fällt ernüchternd aus. Wo steht Deutschland mit Blick auf die Klimaziele 2030?
Die Klimapolitik ist nicht auf Kurs. Wir haben uns 2021 mit deutlich steigenden Treibhausgasemissionen und einem Einbruch bei der Ökostromproduktion von den Klimazielen für 2030 entfernt – und das steht im scharfen Gegensatz zu den deutlich gestiegenen Ambitionen. Wir gehen davon aus, dass die Emissionen weiter steigen, wenn die wirtschaftliche Erholung nach der Coronakrise voranschreitet. Daher sind aus unserer Sicht auch die Klimaziele für 2022 bereits akut gefährdet.
Ist das vor allem dem Comeback der Kohle geschuldet?
Wir müssen Ursachen und Symptome unterscheiden. Zu den strukturellen Ursachen gehört der seit vielen Jahren verschleppte Ausbau der erneuerbaren Energien. Problemverschärfend kam 2021 hinzu, dass der Stromverbrauch gestiegen ist, während die Erneuerbaren in einem schwachen Windjahr wegsackten. Die Lücke hat dann – und das ist das Symptom – wegen der hohen Gaspreise die Kohle geschlossen, und das hat uns im Strombereich stark steigende Emissionen beschert.
Die Bundesregierung will mit einem Klimaschutz-Sofortprogramm gegensteuern. Was muss aus Sicht von Agora Energiewende mit in das Gesetzespaket?
Neben einem umfassenden Sofortprogramm, das alle Sektoren einschließt, braucht es natürlich in der gesamten Legislaturperiode ambitionierte Maßnahmen. Im Stromsektor stehen die Erneuerbaren im Zentrum. Da brauchen wir die ausreichende Bereitstellung von Flächen für einen massiven und schnellen Ausbau von Wind- und Solarenergie. Um schnell eine Dynamik zu schaffen, muss die Solarpflicht für Dächer ebenso kommen wie bessere Bedingungen für große Dachanlagen und Freiflächen-PV.
Wie sieht das Pflichtenheft für die Windenergie aus?
Für die Windenergie an Land müssen wir 2% der Flächen zur Verfügung stellen. Im Moment sind es weniger als die Hälfte, und der Onshore-Wind ist umzingelt von sehr vielen Restriktionen. Die müssen deutlich abgebaut werden. Bei Offshore-Wind ist der Ausbau im vergangenen Jahr vollständig zum Erliegen gekommen. Das ist gravierend und zeigt die Hypothek, mit der die neue Regierung startet. Auch da müssen wir vor allem mehr Flächen bereitstellen, und die Netzanschlüsse müssen schneller kommen.
Und die Übertragungsnetze?
Auch hier müssen Ausbauhemmnisse abgeräumt werden. Außerdem müssen wir die Flexibilität im System erhöhen und dazu Stromsteuern und Abgaben reformieren, um besseres Lastenmanagement und mehr Speicherkapazität zu schaffen.
In der Industrie sollen Carbon Contracts for Difference zu Emissionsreduktionen führen. Sind diese Verträge unterschriftsreif?
Die im Klimaschutzgesetz festgelegten Ziele für die Industrie bedeuten eine Versechsfachung der bisherigen jährlichen Emissionsminderungen. Dazu sind im Koalitionsvertrag beispielhafte Maßnahmen aufgeführt. Mit Carbon Contracts for Difference hilft der Staat dabei, die Kostenlücke für klimaneutrale Investitionen und Produkte zu schließen, und dafür braucht es eine praxistaugliche Umsetzung. Die Bundesregierung muss aber auch auf der Nachfrageseite die Weichen stellen, damit Leitmärkte für grüne Technologien entstehen.
Bleibt neben Strom und Industrie noch der Bereich Wärme.
Für den Bereich Wärme gibt es nun sehr ambitionierte Ziele: 50% der Wärme soll bis 2030 klimaneutral sein. Besonders knifflig ist dabei der Gebäudesektor. Denn wir müssen fast alle Häuser anfassen und im ganzen Land eine Sanierungswelle auslösen, die es so noch nicht gegeben hat. Das ist jahrelang verschlafen worden, da brauchen wir neue Konzepte. Wichtig ist zum Beispiel eine Änderung der Fördersystematik: Derzeit stecken wir viele Milliarden Euro Fördermittel vor allem in den Neubau, in dem ohnehin häufig auf moderne Lösungen gesetzt wird. Daher braucht es auch dringend Anreize und Fördermittel, um den Bestand klimaneutral zu machen.
Die Ampel will sich von sektorspezifischen Jahreszielen im Klimaschutzgesetz verabschieden. Wie bewerten Sie das?
Die klare Verantwortlichkeit der Ressorts war eine maßgebliche Innovation des deutschen Klimaschutzgesetzes, und diese sollten wir auf keinen Fall infrage stellen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die im aktuellen Klimaschutzgesetz vorgesehenen Sofortprogramme am Ziel vorbeigehen: Der Staat steuert erst nach, wenn das Ziel im Jahr zuvor verfehlt wurde. Und dann muss ein Sofortprogramm unmittelbar Emissionen senken. Dieser reaktive und kurzfristige Ansatz kann zu hohen Kosten führen und bringt nicht unbedingt die nachhaltigste Lösung hervor.
Wie lässt sich dieser Mangel im Gesetz beheben?
Hier braucht es zwei Änderungen: Erstens sollte bereits gehandelt werden, wenn eine Zielverfehlung absehbar ist. Und zweitens müssen wir auch langfristig wirkende Maßnahmen in geeigneter Weise auf die Sektorziele anrechnen. Die klare Zuständigkeit der Ressorts für die Klimaziele müssen wir aber unbedingt beibehalten, weil sich sonst die Problembereiche auf den Erfolgen der anderen ausruhen könnten. Klar ist aber auch: Wir müssen in allen Sektoren sehr schnell und umfassend handeln.
Agora Energiewende sieht trotz der jüngsten Entwicklung gute Chancen für einen Kurswechsel in der Klimapolitik. Was macht Sie so optimistisch?
Wenn wir in zehn Jahren auf 2021 zurückblicken, wird man sicher den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als entscheidende Weichenstellung für den Klimaschutz sehen. Dieser Beschluss gründet auf einer hervorragenden Analyse des aktuellen Standes der Klimawissenschaft. Die Richter sind zu dem Schluss gekommen, dass der Klimawandel zu extremen gesellschaftlichen Verwerfungen führen kann, und sie haben das Grundgesetz so interpretiert, dass der Staat zum Klimaschutz verpflichtet ist. In diesem neuen Koordinatensystem muss sich die Politik ab jetzt bewegen.
Das Interview führte