Sanktionen

Die Retter der russischen Wirtschaft

Russlands Wirtschaft erwies sich bisher gegen Sanktionen als robust. Das liegt nicht nur am Öl- und Gaspreis. Es liegt an jenen Gruppen der Gesellschaft und der Elite, die weniger in der Öffentlichkeit stehen als die hurrapatriotischen Hardliner und tendenziell gegen den Krieg sind.

Die Retter der russischen Wirtschaft

Von Eduard Steiner, Moskau

Wie konnte es kommen, dass Russlands Wirtschaft zehn Monate nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine so fein raus ist, obwohl die Erwartungen von allen Seiten gänzlich andere gewesen waren? Von einem möglicherweise sogar zweistelligen Wirtschaftseinbruch war im Frühjahr noch die Rede gewesen. Inzwischen sieht es deutlich positiver aus.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte im April ein Ganzjahres-Minus von 8,5% prognostiziert. Im Juli senkte er den Prognosewert bereits auf sechs Prozent und zuletzt im Oktober dann auf nur noch −3,4%. Auch für das kommende Jahr sieht der IWF nun weniger schwarz und erwartet statt des zuvor prophezeiten Minus von 3,5% nur noch eines von 2,3%.

Die Situation ist zwar trotzdem nach wie vor alles andere als rosig, zumal die russische Wirtschaft ja bereits seit der Krim-Annexion 2014 de facto stagnierte. Aber Russland hat schon Schlimmeres erlebt, bedenkt man, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) während der Finanzkrise 2009 um 7,8% eingebrochen war. Auch nach dem Rubelcrash 1998 büßte das russische BIP −5,3% ein.

„Die Erwartungen, dass die Wirtschaft sofort zusammenbrechen würde, sind einfach daneben gewesen“, äußerte dieser Tage der Moskauer Politologe und Ökonom Dmitri Oreschkin einen Befund, der inzwischen unter Experten vorherrscht: Russlands Ökonomie gehört auch nach dem Angriff auf die Ukraine und die darauffolgenden Sanktionen vonseiten der USA und der Europäischen Union immer noch zu den größten der Welt und funktioniere eben nach dem Trägheitsgesetz auf weite Strecken vorerst weiter.

Viel Geld im System

An Gründen für die Resilienz werden von Ökonomen auf Anfrage der Börsen-Zeitung auch diverse andere genannt: Der Großteil der westlichen Firmen sei nach wie vor im Land tätig, der andere Teil habe eine geordnete Übergabe an russische Käufer vorgenommen. Der Staat habe reichlich Geld ins System gepumpt. Mit dem vom Staat stimulierten Parallelimport bleibe der Zugang der Verbraucher zu den meisten Waren gewährleistet. Und asiatische Handelspartner haben die westlichen zum Teil ersetzt.

„Die größte Fehleinschätzung der meisten war, die Integration Russlands in die Weltwirtschaft zu überschätzen“, betonte Wladimir Putins ehemaliger Wirtschaftsberater und nunmehrige Mitarbeiter am Washington Center for Security Policy, Andrej Illarionow, erst vor kurzem im Interview mit der Börsen-Zeitung. „Die Integration ist einseitig auf Öl- und Gaslieferungen konzentriert.“ Und auf diesem Gebiet hat Russland aufgrund der deutlich gestiegenen Preise seit Kriegsbeginn sogar mehr verdient als im Jahr zuvor.

Doch ungeachtet dieser Faktoren sehen Beobachter den Hauptgrund für die Resilienz in einem Phänomen, das nicht einmal den Russen selbst, geschweige denn dem Westen so bewusst ist: Die russische Wirtschaft wurde paradoxerweise gerade von jenen zwei gesellschaftlichen Gruppen gerettet, die nicht zu den Kriegstreibern gehören und Putins konfrontative Außenpolitik tendenziell ablehnen, auch wenn sie so gut wie keinen aktiven Widerstand dagegen leisten – dem Mittelstand und den verhältnismäßig jungen, liberalen Wirtschafts- und Finanzprofis im Establishment.

Flexible Mittelschicht

„In Russland hat sich eine kleine Schicht von privaten Klein- und Mittelunternehmen herausgebildet, die sehr flexibel, adaptionsfähig und aggressiv ist“, erklärt Oleg Wjugin, heute Wirtschaftsprofessor und zuvor Vizechef der russischen Zen­tralbank sowie Aufsichtsratschef der Moskauer Börse, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.

Denn obwohl ihr Anteil an der Volkswirtschaft mit vielleicht 20% weitaus geringer sei als der Anteil der Mittelschicht im Westen, sei es diese Schicht gewesen, die keine Risiken gescheut und auf weite Strecken die Situation beim Import gerettet habe. „Hätte es sie nicht gegeben, hätte Russland einen großen Schaden erlitten und viele Waren nicht erhalten“, so Wjugin.

Dem stimmt auch der Moskauer Ökonom Wladislaw Inosemzew zu, der dieser Tage in einem Interview auf die Tatsache verwies, dass sich in 30 postsowjetischen Jahren also doch eine Marktwirtschaft etabliert habe – auch wenn diese nun teilweise an die turbulenten 1990er Jahre erinnere, wie auch Wjugin betont. Die russischen Klein- und Mittelunternehmen seien initiativ, indem sie ihre Ausgaben drosselten und neue Lieferanten suchten. Und sie erwiesen sich als krisenerfahren.

Das sind freilich auch viele der wirtschaftsliberalen Fachleute im engeren Umfeld des russischen Präsidenten, die gemeinhin als Gegengewicht seiner dirigistischen und oftmals geheimdienstgeschulten Hardliner gelten, auch wenn die Trenn­linie zwischen ihnen oft genug unscharf ist.

Ob die Zentralbank oder einschlägige Ministerien, ob der Wirtschaftsblock des Kremls, staatliche Konzerne oder Banken: Ganz viele werden von Wirtschafts- und Finanzprofis ge­führt, die zum Teil aus der Privatwirtschaft kommen oder sogar für westliche Firmen gearbeitet haben und heute zwischen 30 und 60 Jahren alt sind, jedenfalls aber um eine Generation jünger als Putin und dessen geopolitische Haupteinflüsterer.

Moralische Kompromisse

Das Selbstverständnis und Psychogramm dieser Liberalen und Technokraten hat Alexandra Prokopenko, bis vor kurzem selbst Beraterin in der Zentralbank und heute Expertin im US-amerikanischen Carnegie Institute, neulich in einer Analyse offengelegt: Diese Leute hätten zu Beginn ihrer staatlichen Karriere gewusst, dass sie diverse moralische Kompromisse eingehen müssen, um ihre Karriere und Position zu bewahren und effizient Nutzen zu bringen, schreibt Prokopenko. Deshalb hätten sie sich auch mit dem russischen Angriffskrieg, den sie eigentlich nicht goutierten, relativ leicht abgefunden und widmeten sich auch jetzt ihrer Mission, die Wirtschaft ohne politische Einmischung durch alle Schwierigkeiten zu manövrieren.

Stärkster Ausdruck dieser Mission war gleich zu Kriegsbeginn Ende Februar das von der wirtschaftsliberalen Chefin der russischen Zentralbank, Elwira Nabiullina, geleitete Krisenmanagement, mit dem sie den Rubel vor dem Absturz bewahrt und in allen Lagern bis hinauf zu Putin und bis hinein in die Expertenwelt Lob geerntet hat.

Bezeichnend ist aber, dass nur eine Handvoll renommierter Vertreter des wirtschaftsliberalen Lagers sich offen gegen den Krieg gestellt hat. Und allemal bemerkenswert ist zudem, dass Nabiullina gemeinsam mit dem ehemaligen Wirtschaftsminister und mittlerweile langjährigen Chef der größten und staatlichen Bank Sberbank, Herman Gref, einen Monat vor Kriegsbeginn einen Termin bei Putin hatte, bei dem sie ihn vor jeder weiteren geopolitischen Eskalation zum Schaden der Wirtschaft warnen wollten, wie dieser Tage die „Financial Times“ mit Verweis auf Insider berichtete.

Putin habe sich das Ganze jedoch gar nicht richtig angehört, sondern dort abermals – wie schon früher und schließlich auch nach dem Überfall auf die Ukraine – daran erinnert, dass die Zuständigen für die Wirtschaft sich lieber darum kümmern sollten, wie man die negativen Folgen westlicher Sanktionen minimieren könne. Wie sich heute zeigt, haben Nabiullina und Gref das auch effizient getan. Und die mittelständischen Unternehmen, die teils von der neuen Situation auch profitieren, obwohl sie eigentlich gegen den Krieg sind, ebenso.

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