Euro-Inflation so hoch wie noch nie
Die Inflation im Euro-Raum war im September erstmals zweistellig. Die Verbraucherpreise stiegen angetrieben durch einen anhaltenden Preisschub bei Energie binnen Jahresfrist um 10%, wie das Statistikamt Eurostat am Freitag auf Basis einer ersten Schätzung mitteilte. Das ist das höchste Niveau seit Einführung des Euro als Buchgeld 1999. Von Reuters befragte Experten hatten lediglich mit einem Anstieg der Inflation auf 9,7% gerechnet, nach einer Teuerungsrate von 9,1% im August.
EZB unter verstärktem Handlungsdruck
Mit dem unerwartet kräftigen Inflationsschub im September wird ein weiterer Jumbo-Zinsschritt der Europäischen Zentralbank (EZB) auf der nächsten Zinssitzung am 27. Oktober immer wahrscheinlicher. Zuletzt hatten zahlreiche Währungshüter erklärt, dass eine Zinsanhebung um 0,75 Prozentpunkte auf der Tagesordnung stehen sollte. Denn das Inflationsziel der EZB rückt jetzt immer mehr in die Ferne. Die Teuerungsrate ist mittlerweile fünf mal so hoch wie das Notenbankziel von 2%. „Der nächste Schritt muss groß sein, denn wir sind noch weit von Zinssätzen entfernt, die mit einer Inflation von 2% vereinbar sind“, hatte der lettische EZB-Rat Martins Kazaks am Mittwoch in einem Interview mit Bloomberg gesagt. „Ich würde 75 Basispunkte befürworten – lassen Sie uns einen größeren Schritt machen und die Zinssätze schneller anheben.“ In dieser Woche begannen die Geldmärkte, einen zweiten Zinsschritt um 75 Basispunkte in Folge bereits einzupreisen.
Allerdings steckt die EZB in einem großen Dilemma, betont Seema Shah, Chief Global Strategist bei Principal Global Investors in London: „Die Eindämmung der Inflation liegt nicht nur aufgrund ihrer angebotsseitigen Grundlagen weitgehend außerhalb der Reichweite der EZB, sondern eine Anhebung der Leitzinsen wird die akute Wirtschaftsschwäche, die sich in der Region abzuzeichnen beginnt, nur noch vertiefen.“ Die Wirtschaft werde „kopfüber in einen harten Winter und eine Rezession“ gestürzt.
Breiter Teuerungsfächer in der Eurozone
Die höchsten Inflationsraten im Währungsraum wiesen mit mehr als 20% erneut die drei baltischen Staaten auf. So stiegen die Verbraucherpreise in Estland um 24,2%, in Litauen um 22,5 und in Lettland um 22,4%. In Deutschland betrug die nach europäischen Standards berechnete Inflationsrate 10,9%. Deutschland leistete mit 0,6%-Punkten auch den größten Beitrag zum Anstieg der Eurozone-Inflationsrate, gefolgt von den Niederlanden (17,1% nach 13,7%) mit 0,2%-Punkten. Gedämpft haben den Anstieg der Verbraucherpreise dagegen Frankreich (6,2% nach 6,6%) und Spanien (9,3% nach 10,5%). In beiden Ländern waren staatliche Eingriffe (erhöhter Tankrabatt bzw. kostenloser ÖPNV) hauptsächlich für die rückläufige Teuerungsrate verantwortlich.
Energie schiebt alle Preise an
Die Preise für Energie schossen im September besonders kräftig nach oben. Energie verteuerte sich binnen Jahresfrist um 40,8%. Im August hatte der Anstieg noch bei 38,6% gelegen. Die Preise für Lebensmittel, Alkohol und Tabak kletterten um 11,8% nach 10,6% im August. Industriegüter ohne Energie verteuerten sich um 5,6% nach 5,1% im August. Und die Teuerungsrate ohne die volatilen Preise von Energie, Nahrungs- und Genussmittel erhöhte sich um 0,5 Punkte auf 4,8%. Bei den Dienstleistungen nahm der Preisschub ebenfalls zu. Sie verteuerten sich im September um 4,3% nach 3,8% im August.
Lohn-Preis-Spirale dreht sich schon
Es wird allgemein erwartet, dass die bislang noch vorrangig durch die Energiepreise bestimmte Inflation nach und nach auch in weniger energieabhängige Branchen diffundiert und über Zweit- und Drittrundeneffekte es dort ebenfalls zu starken Preisanhebungen kommt bis hin zur Gefahr einer sich in Gang setzenden Lohn-Preis-Spirale. Das besorgt auch viele Volkswirte.
Die zuletzt gesunkenen Preise für Rohstoffe, insbesondere Rohöl, und die Maßnahmen der nationalen Regierungen zur Dämpfung der Energiepreise ließen zwar erwarten, dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten wohl nicht deutlich über 10% steigen werde, schreibt Christoph Weil von der Commerzbank. Bei einer Stabilisierung der Energiepreise werde die Inflationsrate im Verlauf des kommenden Jahres sogar allmählich wieder sinken. Doch damit seien die Inflationsprobleme nicht verschwunden. Der unterliegende Preisauftrieb werde kaum nachlassen, zumal der Preisanstieg auf der Erzeugerstufe weiterhin sehr hoch sei und viele Unternehmen ihre höheren Produktionskosten noch nicht vollständig an die Verbraucher weitergegeben hätten. „Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen für eine deutliche Verstärkung des Lohnauftriebs. Denn die Gewerkschaften werden bei den kommenden Tarifverhandlungen zumindest einen teilweisen Ausgleich für die immer höhere Inflation fordern.“
„Energiewende beschleunigen“
Die Chefvolkswirtin der KfW, Dr. Fritzi Köhler-Geib, verweist auf die Auswirkungen der nun noch einmal verstärkt betriebenen geldpolitischen Straffungskurs zur Bekämpfung der Teuerung. Die EZB könne die wirtschaftlichen Kosten der Energiekrise nur begrenzen. Für eine nachhaltige Lösung müssten nun die Regierungen „den Rahmen für eine deutlich beschleunigte Energiewende setzen und private Investitionen in diesem Bereich erleichtern.“ Trotzdem werde Europa zunächst weiter auf sehr teure Energieimporte angewiesen sein. Köhler-Geib: „Das ist eine Realität, der wir uns stellen müssen.“