„Europas ökonomische Lage ist ernst, die rosa Brille muss weg“
Im Interview: Gabriel Felbermayr
„Die Lage ist ernst, die rosa Brille muss weg“
Brüssel muss das Mikromanagement unterlassen und dem Markt mehr Freiraum geben, fordert der Direktor des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts
Der Ausbau des Binnenmarkts kann Europa ökonomisch und technologisch wieder nach vorn bringen, betont Wifo-Direktor Gabriel Felbermayr und sieht darin die Möglichkeit, die Region auch geopolitisch besser zu positionieren. Statt Unternehmen kleinteilige Vorgaben zu machen, sollte sich Brüssel auf paneuropäische Aufgaben und Investitionen konzentrieren, etwa in die Infrastruktur. Hierfür räumt er der EU auch die Möglichkeit der Schuldenaufnahme ein.
Herr Prof. Felbermayr, der frühere EZB-Chef Mario Draghi hat in seiner Analyse für die EU-Kommission ein niederschmetterndes Urteil über die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefällt und spricht von „existenziellen Sorgen“. Stimmen Sie der Diagnose zu?
Ja, er hat recht, jedenfalls was den Durchschnitt angeht. Dieser wird von den großen Volkswirtschaften, allen voran Deutschland, getrieben. Aber es gibt innerhalb der EU viel Heterogenität. Dänemark etwa schlägt sich sehr gut, Schweden auch, Irland ist sowieso ein Sonderfall, und auch die Niederlande oder, vielleicht überraschend, Belgien, trotzen dem Trend, jedenfalls wenn man dem IMD-Ranking 2024 Glauben schenken will.
Der Binnenmarkt ist unser wichtigster geoökonomischer Trumpf – aber noch sehr, sehr unvollendet.
Draghi sieht die EU als Institution in einer Schlüsselrolle, um Europa technologisch und wirtschaftlich wieder an die konkurrierenden Wirtschaftsräume heranzuführen. Er schlägt zusätzliche Finanzmittel vor. Aber stellt die EU in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit nicht selber eher ein Problem als eine Lösung dar?
Sie ist in der Tat beides gleichzeitig; Problem und Lösung. Das gilt ja auch für Deutschland. Viele Probleme sind hausgemacht, sie müssen auch von uns selbst gelöst werden, auf EU-Ebene, aber auch auf Ebene der Mitgliedstaaten. Aber es gibt etwas, das in der aktuellen Zeit massiv für die EU spricht: Size matters, Größe ist entscheidend! In Zeiten geopolitischer Rivalitäten hat jene Region die Nase vorne, die den größeren eigenen Markt hat. Dort können neue Technologien schneller skaliert werden, Innovationen rentieren sich eher und in machtpolitischen Auseinandersetzungen ist die Verhandlungsmacht größer. Der Binnenmarkt der EU ist unser wichtigster geoökonomischer Trumpf, aber er ist noch sehr unvollendet.
Was muss hier getan werden?
Da braucht es gesetzliche Anpassungen, etwa um die Kapitalmarktunion voranzubringen, aber auch Investitionen in die paneuropäische Infrastruktur. Das Schienennetz, Strommetz und das Datennetz sind nicht hinreichend integriert. Hier braucht es hunderte Milliarden Euro, und zwar auf EU-Ebene. Dann können die Investitionsbudgets auf nationaler Ebene durchaus auch fallen. Gleichzeitig sollte sich die EU aber auch aus Aktivitäten zurückziehen, wo sie kaum europäischen Mehrwert stiftet, etwa in der Förderung der Landwirtschaft.
Europa hält sich nicht an die eigenen in den Verträgen niedergelegten Prinzipien.
Wenn Sie sich den Agrarmarkt vor Augen halten, an den Bologna-Prozess und die Lissabon-Strategie denken: Was ist da falsch gelaufen oder läuft falsch?
Europa hält sich nicht an die eigenen in den Verträgen niedergelegten Prinzipien. Das Subsidiaritätsprinzip etwa bedeutet, dass die Förderung der Landwirtschaft – im von der EU und der WTO vorgegebenen Rahmen – von den Mitgliedstaaten verantwortet werden sollte, die paneuropäischen Netze oder der Schutz der EU-Außengrenzen aber von der Gemeinschaft. Der Bologna-Prozess ist nicht grundlegend falsch; es ist wichtig für den gemeinsamen Arbeitsmarkt, dass Hochschulabschlüsse kompatibel und vergleichbar sind. Der die Reform begleitende Wunsch, die Akademikerquote müsse steigen, hat aber wahrscheinlich zu einem Qualitätsverlust der universitären Ausbildung geführt.
Und die Lissabon-Strategie?
Nun, das war reine Träumerei, ohne eine realistisch umsetzbare Strategie. Das macht man in Brüssel gerne, auch mit eifrigem Zutun der Mitgliedstaaten. Die Lage ist seit Lissabon noch viel ernster geworden. Die rosa Brille muss weg; dafür hat, denke ich, jetzt der Draghi-Report gesorgt.
Die EU will laut ihrer Verfassung eine „hoch wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ sein. Das schließt eigentlich kleinteilige, bürokratische Regulierung aus.
Sollte die EU nicht besser auf marktbasierte Lösungen setzen und nur bessere Rahmenbedingungen vorgeben?
Ja, das wäre das andere grundlegende Prinzip: Die EU will laut ihrer Verfassung nämlich eine „hoch wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ sein. Das schließt eigentlich kleinteilige, bürokratische Regulierung aus. Was im Artikel 3 des EU-Vertrages steht, ist auch ökonomisch sinnvoll. Innerhalb eines verlässlichen, gut definierten Rahmens soll der Markt möglichst frei zu Lösungen finden. Die Rolle der Politik ist nicht das Mikromanagement, sondern das Schaffen eines Ordnungsrahmens.
Gerade beim Binnenmarkt gibt es ja noch viel zu tun: Hier fehlt vor allem ein integrierter Finanzbinnenmarkt, eine Kapitalmarktunion. Was könnte ein solcher Binnenmarkt für die Wettbewerbsfähigkeit bewerkstelligen?
Viele Studien zeigen sehr überzeugend, dass der EU-Binnenmarkt wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen hat. Aber es gibt noch sehr viel Luft nach oben. Grenzüberschreitende Transaktionen sind sehr viel seltener zwischen den EU-Mitgliedstaaten als zum Beispiel zwischen den Bundesstaaten der USA.
Ein entschiedener Ausbau des Binnenmarktes könnte zum neuen Wachstumsmotor für Europa werden.
Warum ist das so?
Der Effekt lässt sich nicht durch Sprache oder Kultur erklären. Ein entschiedener Ausbau des Binnenmarktes könnte zum neuen Wachstumsmotor für Europa werden. Neben der Kapitalmarktunion, an der man sich schon länger mit wenig Erfolg versucht, wäre eine Energiemarktunion wichtig. Auch eine echte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich könnte massiv Kosten sparen helfen und gleichzeitig die Produktivität der Branche steigern.
Brüssel kommt nicht voran, weil die Mitgliedstaaten nicht wirklich wollen.
Warum kommt Brüssel da nicht voran? Und warum endet dann vieles in Überbürokratisierung und Regelungswahn? Was sollte sich diesbezüglich ändern?
Brüssel kommt nicht voran, weil die Mitgliedstaaten nicht wirklich wollen. Es gibt leider zu wenig Konsens darüber, was passieren sollte. Und wenn man eine Bürokratie keine großen Brötchen backen lässt, versenkt sie ihre Energie in das Backen von kleinen, die, in großem Ausmaß konsumiert, Gesundheitsschäden hervorrufen. Die Mitgliedstaaten müssten klar definieren, was sie wollen, und dafür den Rahmen vorgeben. Sie müssten dafür von ihrer eigenen kleinstaatlichen Machtfülle abgeben. Da tun sie sich sehr schwer. Das ist am Ende zum Nachteil der eigenen Bevölkerungen.
Wenn Sie Brüssel zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit drei Ratschläge geben sollten, wie würden die lauten?
Erstens sollte Brüssel damit aufhören, Mikromanagement zu betreiben, und sich dabei der europäischen Unternehmen bedienen. Stichwort Lieferkettenregulierung. Zweitens sollte sehr viel klarer als bisher auf weniger, aber bessere Regulierung Wert gelegt werden, die am Ende mehr Markt zulässt. Und drittens muss Top-Priorität auf grenzüberschreitende Investitionen in die Infrastruktur gelegt werden, vor allem bei Strom und Schiene. Dafür, und nur dafür, sollte sich die EU auch verschulden dürfen.
Das Interview führte Stephan Lorz.
Das Interview führte Stephan Lorz.