Fachkräfte-Sicherung ohne Konzept
Von Anna Steiner, Frankfurt
Der Fachkräftemangel befindet sich auf einem Allzeithoch: Nie klagten mehr Unternehmen über die Schwierigkeiten, geeignetes Personal für ihre offenen Stellen zu finden. In Berlin fand deshalb am Mittwoch ein Gipfel zur Fachkräfte-Sicherung statt. Eingeladen hatten Bundesbildungsministerium, Bundesarbeitsministerium und Bundeswirtschaftsministerium. Auf der Gästeliste standen Arbeitgeber, Gewerkschaften und Branchenverbände. Im Herbst soll die heute vorgestellte Fachkräfte-Strategie der Ampel-Koalition im Kabinett beraten werden.
„Für viele Betriebe ist die Suche nach Fachkräften schon heute eine existenzielle Frage“, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Unser Land braucht Fachkräfte, um die Digitalisierung und den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu stemmen.“ Fünf Handlungsfelder erachtet die Koalition ihrem 41 Seiten umfassenden Strategiepapier zufolge als zentral: Erstens eine zeitgemäße Ausbildung, zweitens die gezielte Weiterbildung und drittens das Heben von Arbeitspotenzialen und die Steigerung der Erwerbsbeteiligung – etwa bei den Teilzeitkräften. Viertens eine Verbesserung der Arbeitsqualität und einen Wandel der Arbeitskultur sowie fünftens eine Modernisierung der Einwanderung und Reduzierung der Abwanderung. Viele diese Punkte sind zwar wohlklingend, allerdings fehlt es dem Papier an Innovation und einem Plan für die konkrete Umsetzung – insbesondere in diesen Zeiten einer schwächelnden Konjunktur. Es dürfte nicht damit getan sein, gemeinsam dafür zu werben, „dass Deutschland ein weltoffenes Land ist mit interessanten und hochwertigen Arbeitsplätzen“, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) es forderte.
Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger betonte die Wichtigkeit der dualen Berufsausbildung für die deutsche Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit. „Akademische und berufliche Bildung sind unterschiedlich, aber gleichwertig. Beide sind tolle Sprungbretter für ein erfolgreiches Berufsleben“, sagte die FDP-Politikerin. Der Plan sei, die berufliche Orientierung auszubauen und insbesondere Gymnasien stärker einzubeziehen. Entgegen dem Trend bei den Fachkräften nimmt die Zahl der Akademiker immer weiter zu (siehe Grafik). Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Mittwoch meldete, stieg die Zahl der Absolventen an Universitäten im vergangenen Jahr um 9% gegenüber dem Vorjahr.
Wirtschaft enttäuscht
Aus der Wirtschaft kam heftige Kritik. Die Regierung habe zwar ein Strategiepapier vorgelegt, sagte etwa der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, am Mittwoch. Eine bloße Sammlung von Einzelprojekten sei aber keine Strategie, die mittel- und langfristig konzipiert sein müsse. „Es fehlt der Kompass“, sagte Wollseifer.
Auch die Digitalbranche äußerte Unmut. Zwar sei es richtig und wichtig, dass der Bundesarbeitsminister die Zuwanderung fördern wolle. Den spezifischen Anforderungen der digitalen Wirtschaft werde der Vorschlag aber nicht gerecht, sagte Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. „Was vielleicht in der Pflege oder im Handwerk hilft, läuft im Wettbewerb um die klügsten digitalen Köpfe ins Leere.“ Gerade IT-Fachkräfte und Softwarespezialisten bräuchten oft keine Deutschkenntnisse und sollten von diesem Kriterium bei der Einwanderung befreit werden. Zudem sollten auch solche IT-Spezialisten einwandern und arbeiten dürfen, die ihre Qualifikation jenseits öffentlicher Bildungsinstitutionen erworben haben – wie es in der Branche häufig der Fall sei, so der Bitkom-Chef.
Rohleder forderte von der Bundesregierung mit Blick auf die Zuwanderung ebenso, dass IT-Kräfte aus Belarus und Russland innerhalb einer Woche eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sofern sie den russischen Krieg gegen die Ukraine nachweislich ablehnten und für freiheitlich-demokratische Werte einträten. Eine weitere Forderung des Bitkom betrifft die Bürokratie: Diese solle vereinfacht und digitalisiert werden.
Die Arbeitnehmerseite zeigte sich zunächst erfreut, dass die Koalition Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einen Tisch hole, „um eine effiziente Fachkräftestrategie zu entwickeln“, wie Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), im Vorfeld des Gipfels lobte. Die Gewerkschaften sehen aber nicht nur die Politik, sondern auch die Arbeitgeber in der Pflicht. „Schnellschüsse, um das Wehklagen der Arbeitgeber kurzfristig zu beschwichtigen, sind keine Lösung“, sagte Piel.
Es liege auch in der Hand der Arbeitgeber, Arbeitsplätze etwa über verbesserte Arbeitsbedingungen und einen angemessenen Lohn attraktiver zu machen. Bestes Beispiel sei die Pflege: Zigtausende verließen den Beruf wegen der massiven Belastung und unattraktiven Löhne nach wenigen Jahren wieder, so Piel. „Das löst man aber nicht, indem man Ersatzkräfte in Drittstaaten rekrutiert und zu Dumpinglöhnen hier arbeiten lässt.“