Frankreichs Reise ins Unbekannte
Frankreichs Reise ins Unbekannte
Regierung von Premierminister Michel Barnier muss nach Misstrauensantrag zurücktreten
wü Paris
Von Gesche Wüpper, Paris
Die Regierung von Frankreichs Ministerpräsidenten Michel Barnier muss nach gerade mal drei Monaten im Amt zurücktreten. Der Misstrauensantrag des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire (NFP), dem neben der linksextremen Partei La France Insoumise auch Sozialisten, Grüne und Kommunisten angehören, wurde mit 331 Stimmen angenommen. Erforderlich waren nur 288 Stimmen. Neben den Abgeordneten der NFP stimmten auch die 126 Abgeordneten des rechtsextremen Rassemblement National (RN) und ihre 16 Verbündeten von den abtrünnigen Republikanern für den Misstrauensantrag.
Es ist das erste Mal, dass in Frankreich eine Regierung über einen Misstrauensantrag stolpert, seit im Oktober 1962 eine Mehrheit der Abgeordneten gegen Premierminister Georges Pompidou gestimmt hat. Präsident Charles de Gaulle hatte daraufhin die Assemblée Nationale aufgelöst und vorzeitige Parlamentswahlen angesetzt, aus denen seine Partei erfolgreich hervorging, so dass Pompidou doch Premierminister blieb. Im Gegensatz zu damals kann Präsident Macron die Nationalversammlung jetzt jedoch nicht auflösen, da er bereits im Juni Neuwahlen angesetzt hatte. Verfassungsrechtlich muss er deshalb ein Jahr bis Anfang Juli mit neuen Parlamentswahlen warten.
Le Pen droht Ende März Verurteilung
Verschiedene Oppositionsvertreter von den extremen Rändern träumen davon, Macron selber zum Rücktritt zu zwingen und so die eigentlich 2027 zum nächsten Mal anstehenden Präsidentschaftswahlen vorziehen zu können, darunter Marine Le Pen vom RN. Denn ihr droht Ende März ein Urteil des Strafgerichts Paris. Die französische Justiz wirft Le Pen vor, EU-Gelder veruntreut zu haben. Die Staatsanwaltschaft fordert deshalb neben Geldbußen und einer Haftstrafe, dass sie fünf Jahre lang nicht bei Wahlen antreten darf. „Selbst mit einem Barnier alle drei Monate kann sich Macron nicht drei Jahre halten“, spottete LFI-Gründer Jean-Luc Mélenchon nach Bekanntgabe des Ergebnisses auf Elon Musks Netzwerk X. Obwohl er kein Abgeordneter mehr ist, war Mélenchon Mittwoch extra in die Assemblée gekommen, um dem Sturz der Regierung beizuwohnen.
Macron muss nun einen neuen Premierminister benennen und mit der Regierungsbildung beauftragen. Er könnte aber auch eine sogenannte Expertenregierung einsetzen. Bis eine neue Regierung steht, dürfte die scheidende Regierung die laufenden Geschäfte fortführen. Es könnte eine Spezialgesetz verabschiedet werden, durch das die Haushaltsvorgaben von 2024 im kommenden Jahr fortgeführt werden. Eigentlich hätte das Parlament bis Ende des Jahres über den Haushaltsentwurf 2025 abstimmen müssen, mit dessen Hilfe Barniers Team das Defizit von 6,2% in diesem Jahr auf 5% in 2025 senken wollte.
Spekulationen über Nachfolge Barniers
Theoretisch kann Macron Barnier erneut mit einer Regierungsbildung beauftragen, doch der scheidende Premierminister hat in einem Fernsehinterview Dienstagabend durchklingen lassen, dass er dafür nicht mehr zur Verfügung steht. Zu den möglichen Kandidaten, über die in Paris als Nachfolger Barniers spekuliert wird, gehören der frühere Haushaltsminister François Baroin von den Republikanern und der als erzkonservativ bekannte Innenminister Bruno Retailleau, ebenfalls von den Republikanern. Verteidigungsminister Roland Lescure aus Macrons Partei und François Bayrou von der Zentrumspartei werden auch als mögliche Premierminister gehandelt.
Eine zeitliche Vorgabe für die Berufung eines neuen Premierministers gibt es nicht. Da keine Partei bei den Neuwahlen Anfang Juli auf eine absolute Mehrheit gekommen ist, ist die Assemblée Nationale in drei ungefähr gleich große Blöcke gespalten. Deshalb dürfte es auch für die künftige Regierung schwierig werden, einen Haushalt mit Einsparungen zur Bekämpfung des hohen Defizits durchzusetzen.
Attal plädiert für Nicht-Angriffspakt
Vertreter der Fraktion LIOT (Libertés, indépendants, outre-mer et territoires) plädierten Mittwoch dafür, eine nationale Notstandsregierung zu bilden; eine parteiübergreifende Gruppe, die für Stabilität sorgt. Es gehe darum, zu verhindern, dass Macron wieder die Strippen in die Hand nimmt, erklärten sie. Es sind jedoch vor allem Vertreter des Linksbündnisses NFP, die Macron bis heute nicht verziehen haben, dass er nach den Neuwahlen nicht ihre Kandidatin Lucie Castets mit der Regierungsbildung beauftragt hat, obwohl sie auf die meisten Stimmen gekommen waren.
Macron selber hätte eine große Koalition inklusive Sozialisten, Grünen und anderen Parteien begrüßt, die die republikanischen Werte verkörpern. Dazu zählt er jedoch nicht die an dem Linksbündnis beteiligte Partei LFI und den RN. Vertreter von Macrons Partei Ensemble pour la République hoffen nun, dass sie die Sozialisten diesmal für eine große Koalition gewinnen können. Ex-Premierminister Gabriel Attal, der der Ensemble-Gruppe in der Assemblée vorsteht, will den anderen Parteien nun bis auf LFI und RN einen Nicht-Angriffspakt vorschlagen, um zu verhindern, dass die künftige Regierung bald auch einen Misstrauensantrag fürchten muss.
CAC 40 legt trotz Krise leicht zu
Trotz des drohenden Sturzes der Regierung herrschte an der Börse von Paris die Ruhe vor dem Sturm. Der CAC 40 schloss Mittwoch mit einem Plus von 0,7%. „Wir sind sehr weit von einer Finanzkrise entfernt", meint Investmentstratege Christopher Dembik von Pictet AM. Das Risiko, dass die Regierung über den Misstrauensantrag stürze, sei bei Finanzwerten bereits eingespeist. Es sei wahrscheinlich, dass der CAC 40 in den ersten Monaten 2025 schwach abschneide und der Spread zwischen französischen und deutschen Staatsanleihen groß bleibe.