„Grüner und weniger energieabhängig“
Alexandra Baude.
Herr Schmieding, wie viel Spaß macht es in einer derartigen Phase rasant steigender Energie- und Verbraucherpreise sowie der hohen Unsicherheit, eine Gemeinschaftsprognose zu erstellen?
Es ist leider – und ich muss das leider noch einmal betonen – zurzeit ausgesprochen interessant, miteinander zu diskutieren. Die Situation ist so außergewöhnlich, dass man viel voneinander lernen kann. Wir reden hier ja nicht von einem normalen Konjunkturzyklus. Es ist nicht das übliche Auf und Ab der Nachfrage. Derzeit machen der deutschen Wirtschaft Angebotsprobleme zu schaffen, die im Wesentlichen durch den unfassbaren russischen Überfall auf die Ukraine verursacht werden. Da ist der Austausch zwischen uns 15 Chefvolkswirten besonders wichtig. Die Spannbreite der verschiedenen Prognosen war zunächst groß, hat sich im Zeitablauf der Diskussion aber angenähert.
Diskutieren musste auch die Bundesregierung: Hat sie rechtzeitig und auch die richtigen Maßnahmen ergriffen, um die Folgen der hohen Preise für die Bevölkerung abzuwenden?
Es ist gut, dass die Regierung neue Maßnahmen angekündigt hat, um Wirtschaft und Bevölkerung zu entlasten. Es ist gut, dass das neue Paket insgesamt zielgenauer zu sein scheint als der Tankrabatt oder auch das 9-Euro-Ticket. Doch noch ist die Umsetzung des Pakets nicht konkret genug, um es abschließend beurteilen zu können. Alles in allem achten wir als Volkswirte darauf, dass die Anreizwirkung der Preise bestehen bleibt. Im Grundsatz sollte die Politik daher Maßnahmen einsetzen, die vor allen Dingen denjenigen zugutekommen, die sie wirklich brauchen: den besonders bedürftigen Menschen oder den besonders gefährdeten Unternehmen.
Probleme haben derzeit vor allem die energieintensiven Unternehmen. Sie fahren wegen der Energiekrise die Produktion herunter, stoppen sie in einigen Teilbereichen gar. Wie steht es um die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen?
Wir sollten zunächst kurzfristig den Unternehmen helfen, über diesen außergewöhnlich schweren Winter zu kommen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist ein längerfristiges Konzept. Da müssen wir uns zum Beispiel darauf einrichten, dass auf Jahre hinweg die Preise für Erdgas dort, wo Fracking erlaubt ist – etwa den USA – niedriger sein werden als bei uns. Deshalb wird wohl ein Teil der besonders erdgasabhängigen Industrie in die USA abwandern. Aufgabe der Politik ist, das so zu gestalten, dass es im Rahmen des normalen Strukturwandels verkraftbar ist, bei dem sich unser Wettbewerbsvorteil etwas ändert. Der Wettbewerbsvorteil könnte dann in einigen Jahren statt bei besonders erdgasintensiven Industrien bei jenen liegen, die von den Innovationen profitieren. Diese Innovationskraft der Wirtschaft wird sicherlich bei uns noch mehr in Gang kommen – allein schon angesichts der hohen Preise und des Bedarfs, Energie einzusparen. Kurz gesagt: Unser Wettbewerbsvorteil wird im Zeitablauf grüner werden und weniger energieabhängig.
Der Arbeitsmarkt hält sich derzeit noch wacker. Wird die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro spürbare Folgen haben?
Uns fehlen derzeit Arbeitskräfte. In so einer Situation ist ein höherer Mindestlohn besser verkraftbar als in einer Situation der hohen Arbeitslosigkeit. Das heißt allerdings nicht, dass ein pauschaler Mindestlohn in dieser Höhe in jedem Fall gut ist. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wäre eine gewisse Differenzierung sinnvoll, beispielsweise nach Regionen. Auch könnte man durchaus stärker auf die Tarifautonomie setzen. Aber in einer Situation, in der wir strukturell Arbeitskräfte suchen, werden die Arbeitsmarkteffekte im Sinne von Arbeitsplatzverlusten wegen eines höheren Mindestlohnes vergleichsweise gering ausfallen.
Derzeit läuft die Tarifrunde der IG Metall, die Forderung liegt bei 8%. Ist das der Stoff, aus dem eine Lohn-Preis-Spirale entsteht, mit der sich die Inflation verfestigt?
Wenn es 8% für ein Jahr wären, würde ich mir darüber tatsächlich gewisse Gedanken machen. Ich hoffe, dass Gewerkschaften wie Unternehmen, wo es möglich ist, das Angebot einer steuer- und abgabenfreien Sonderzahlung annehmen und zumindest teilweise dann auch die Lohnerhöhung in diesem Jahr jenseits der Sonderzahlung etwas moderater gestalten. Hohe Zahlen wie 8% wären über zwei Jahre verteilt wesentlich besser verkraftbar als in einem Einjahresvertrag.
Die Zentralbanken machen sich große Sorgen, dass die Inflationserwartungen entankert werden. Sind wir auf dem Weg dorthin?
Bisher gibt es dafür aus unserer Sicht noch wenig Anhaltspunkte. Doch natürlich ist es so, dass die Gefahr umso größer wird, je länger die Inflation so hoch bleibt. Vor allen Dingen steigt das Risiko, je mehr durch sehr hohe Lohnabschlüsse die Sorge genährt wird, dass Unternehmen für längere Zeit gezwungen sein werden, die Kosten über höhere Preise weiterzugeben. Auch deshalb halte ich die Idee einer steuer- und abgabefreien Einmalzahlung, die ja gerade für weniger gut Verdienende relativ viel ausmacht, für einen eleganten Weg. Natürlich nur für Unternehmen, die sich das leisten können.
Die EZB hat im Juli und September mit 50 und 75 Basispunkten ordentliche Sprünge im Kampf gegen die rekordhohe Inflation getan. War dies rechtzeitig, und wie wird es mit dem Straffungskurs weitergehen?
Der Straffungskurs wird wahrscheinlich weitergehen. Es steht ja zu befürchten, dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten noch etwas zulegt. Gerade in Deutschland werden wir mit dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets und des Tankrabatts vermutlich einen gewissen Sprung nach oben sehen. Auch die sehr hohen Erdgaspreise sind bislang nur teilweise beim Verbraucher angekommen. Wie hoch die Inflation steigt, ist unklar, 10% sind kurzzeitig denkbar. Das hängt jetzt sehr davon ab, wie die staatlichen Maßnahmen gestaltet werden. In so einer Situation ist klar, dass die Zentralbank Flagge zeigen muss. Wir erwarten, dass der Hauptrefinanzierungssatz zum Jahresende 2,25% erreichen könnte und dann 2023 möglicherweise noch etwas höher liegt.
Wie bewerten Sie das neue Transmission Protection Instrument (TPI)?
Generell ist es gut, dass es mit TPI ein Instrument gibt, um einer ausgeprägten Panik an den Finanzmärkten zu begegnen, die die Funktion der Geldpolitik stören könnte – und damit auch Konjunktur und Inflationsausblick nachhaltig negativ beeinflussen könnte. Wichtig ist, dass solch ein Kriseninstrument auch nur in solchen Krisensituationen eingesetzt wird. Darum freut es mich, dass die EZB dies klargemacht hat.
War es denn clever, dass das TPI volumenmäßig nicht beschränkt ist?
Generell ja. Die Abschreckungswirkung eines solchen Instrumentes ist umso größer, je weniger vorab klar ist, wie hoch der Einsatz der Zentralbank sein wird. Eine konkrete Vorgabe wäre eine Einladung an Spekulanten am Finanzmarkt, die Grenzen auszutesten. So wie die EZB dieses Instrument richtigerweise verkündet hat, ist es nicht dafür gedacht, um auf Dauer Renditeabstände etwa zwischen Italien und Deutschland zu steuern. Es ist dafür da, disruptive, gefährliche, panikartige Bewegungen an den Rentenmärkten zu vermeiden – im übertragenen Sinne ein Feuerwehreinsatz mit schwerem Löschgerät.
Wie schätzen Sie die Lage in Italien ein: Wird die demnächst gewählte neue Regierung an den im europäischen Wiederaufbauprogramm festgeschriebenen Reform- und Investitionszielen festhalten?
Zunächst einmal: Italien hat langfristig große Strukturprobleme. Aber unter Mario Draghi hat sich einiges getan. Wir sehen in den Daten, dass Italien in den vergangenen Quartalen relativ gut abschneidet. Ob das etwas Einmaliges ist oder ein neuer Trend, lässt sich aus den Daten noch nicht ablesen. Es sind sicherlich weitere Reformen notwendig. Ob eine neue Regierung hier weitermacht, ist unklar. Allerdings hat die EU mit „Next Generation EU“ ein nützliches Handwerkszeug. Denn die Gelder – es geht für Italien insgesamt um rund 200 Mrd. Euro – sind an gewisse Bedingungen geknüpft. Es gibt also für jede Regierung in Rom einen Anreiz, weitere Reformen einzuführen. Nur so fließt dieses Geld tatsächlich weiter. Daher gibt es Chancen, dass die Reformen unter praktisch jeder Regierung weitergehen.
Italien scheint aber Probleme zu haben, die avisierten Projekte ins Laufen zu bekommen.
Das ist offenbar nicht nur ein Problem für Italien. Dass nicht alle Investitionsprojekte so schnell laufen, ist durchaus etwas Übliches. Und meines Erachtens kommt es weniger darauf an, welche Investitionen wann in Italien mit EU-Geldern bezahlt werden, sondern darauf, dass die Bedingungen eingehalten werden, die Brüssel stellt – also Reformen im Justizwesen, in der öffentlichen Verwaltung. Denn letztlich sind es wirtschaftspolitische Reformen, die darüber entscheiden, ob ein Land vorankommt oder nicht. Man kann es auch so sagen: Wenn ein Land strukturell stärker ist, dann braucht der Staat weniger investieren, denn dann kommen die privaten Investitionen von sich aus stärker in Gang.
Und die mit der EU festgeschriebenen Ziele sind realistisch?
Weitgehend ja, denn die Anreize sind da. Da sie mit sehr viel Geld unterfüttert sind, sind die Chancen relativ gut, dass Italien versuchen wird, die Ziele zu erfüllen. Sicherlich wird eine neue Regierung austesten, ob sie nachverhandeln kann.
Neben Italien galten auch Griechenland und Portugal als Sorgenkinder des Euroraums. Wie steht es mittlerweile um sie?
Beide Länder gehören zu den Wachstumsvorreitern in Europa. Griechenland ist zusammen mit einigen sehr kleinen Ländern wie Malta an der Spitze der Wachstumsliga in Europa. Die Länder haben die schmerzhafte Euro-Krise auch als Chance begriffen. Sie sind mittlerweile strukturell in einigen Bereichen besser aufgestellt als viele anderen Länder. Ein Beispiel: In der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist Griechenland wesentlich weiter als Deutschland. Sie haben sich viele ihrer Problemfelder vorgenommen und große Fortschritte gemacht. Was sich jetzt in kräftigerem Wachstum ausdrückt.
Das Interview führte