Inflation nicht mit Badehose in der Eishalle bekämpfen
Den Übergang von einem Aggregatzustand zu einem anderen bezeichnet man in der Physik als Phasenwechsel. Für den neuen Aggregatzustand gelten plötzlich andere Gesetze als zuvor. Wenn Ihnen Wasser über den Fuß läuft, haben Sie nasse Füße. Fällt Ihnen jedoch Eis auf die Füße, tut es weh. Analog ist es mit dem Finanzsystem: Hohe Schulden sind in einer Welt mit niedrigen Zinsen ungemütlich, aber Sie können mit nassen Füßen weiterlaufen. In einer Welt mit hohen Zinsen fällt Ihnen das ganze Gewicht der Schulden auf die Füße und kann Sie zum Sturz bringen.
Wir erleben das Ende niedriger Inflation und vier Jahrzehnte fallender Zinsen. „Die Welt steht an der Schwelle zu einer neuen inflationären Ära“, stellte Agustín Carstens, Chef der obersten Notenbank BIZ, unlängst in aller Deutlichkeit fest. Viele Dynamiken, die in den vergangenen Jahren für niedrige Preise sorgten, haben sich umgekehrt und wirken strukturell entgegengesetzt. Die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr der niedrigen Zinsen und geringer Inflation ist damit eine Illusion.
Dieser Phasenwechsel verändert die Spielregeln fundamental – dies gilt für die Kapitalmärkte und gerade auch für die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Entsprechend den neuen Spielregeln wird auch dringend eine Anpassung des Instrumentenkastens benötigt: Wenn Sie zum Wasser gehen, brauchen Sie eine Badehose – gehen Sie aufs Eis, benötigen Sie Schlittschuhe. Gleichwohl dominieren immer noch wirtschaftspolitische Konzepte, die auf den Gesetzmäßigkeiten der alten Welt beruhen. Doch wer in Zeiten von zweistelligen Inflationsraten neue große Schulden- und Ausgabenprogramme fordert und wer im wirtschaftlichen Umfeld erodierender Wettbewerbsfähigkeit im Hochsteuerland Deutschland weitere Steuererhöhungen auf den Weg bringen will, der steht mit der Badehose in der Eishalle.
Vertrauen ist das Kapital
Für die Notenbanken geht es bereits darum, ihr wichtigstes Kapital zurückzuerlangen: Vertrauen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte die Inflation erst nicht kommen sehen, dann irrtümlich als vorübergehendes Phänomen fehlinterpretiert. Nun darf sie auf keinen Fall weitere Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen lassen, die hartnäckige Teuerung auch konsequent zu bekämpfen. Nun versucht sie die Quadratur des Kreises. Mit dem viel zu späten Einschwenken auf einen Zinserhöhungskurs – verbunden mit dem gleichzeitigen Lancieren von Stützungs- und Antifragmentierungsprogrammen – hat sie bereits einen dramatischen Fehlstart hingelegt.
Ein notwendiger Paradigmenwechsel in der Geldpolitik allein reicht jedoch nicht. Eine stabilitätsorientierte Politik gelingt nur, wenn Geld- und Fiskalpolitik zwar strikt getrennt sind, aber doch nach den gleichen Prinzipien handeln. Die Inflation wird sicher nicht besiegt werden können, wenn die Fiskalpolitik jeden adversen Effekt der geldpolitischen Normalisierung durch defizitfinanzierte Ausgabenprogramme ausgleichen will. Es ist geradezu unverantwortlich, weiterhin über die Aufweichung von Schuldenbremse und Stabilitätspakt zu debattieren. Längst werden aus fragwürdigen Narrativen noch viel fragwürdigere wirtschaftspolitische Implikationen abgeleitet. Fehlinterpretationen und Etikettenschwindel sind der ständige Begleiter dieses Phasenwechsels.
Als Bundesfinanzminister Lindner die kalte Progression abschmelzen wollte, haben dies seine Koalitionspartner umgehend als unerwünschte „Geschenke“ für die Besserverdienenden uminterpretiert. Dabei hat das Ifo-Institut ausgerechnet, dass die Bundesregierung neben den bereits ausgeglichenen rund 5 Mrd. Euro im Jahr 2022 weitere Steuerentlastungen von 11 Mrd. Euro gewähren müsste, nur um die inflationsbedingten Steuermehreinnahmen durch die kalte Progression vollständig an die Steuerpflichtigen zurückzugeben.
Gefährliche Staatseingriffe
Als Folge der Inflation steht der Eingriff des Staates in die Preise wieder hoch im Kurs: Sprit- und Gaspreisbremse, 9- beziehungsweise 49-Euro-Ticket, Mietendeckel – in Berlin wird sogar über einen Dönerpreisdeckel diskutiert. Langfristig verschärfen Preisbremsen jedoch das Problem, das sie beseitigen sollen. Wenn das wichtige Preissignal stummgestellt wird, müssen Produktions- und Verteilungsentscheidungen nach anderen Kriterien allokiert werden. Im Regelfall ist es eine Mischung aus Zwang, Zufall und Privilegien – es entsteht eine Interventionsspirale, die ineffizient und teuer ist.
Immerhin haben wir nicht die alleinige Hoheit über wirtschaftspolitische Etikettenschwindel. Der amerikanische Inflation Reduction Act hat gerade – entgegen seinem verheißungsvollen Titel – vom Budgetbüro des Kongresses bescheinigt bekommen, er habe absolut „keinen erkennbaren Einfluss auf die Inflationsrate“. Hohe Inflationsraten dämpfen das Wirtschaftswachstum, belasten den Arbeitsmarkt und können die Investitionsentscheidungen der Unternehmen negativ beeinflussen. Umso gefährlicher sind aufkommende Überlegungen, eine höhere Inflation zugunsten einer milderen Rezession zu akzeptieren. Die Geldpolitik muss dringend entschlossen handeln, um Preisstabilität zu gewährleisten und ihre Glaubwürdigkeit zu erhalten. Zugleich darf die europäische Finanzpolitik den restriktiven Kurs nicht weiter konterkarieren. Die EZB rechnet vor, dass 90% der fiskalischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Energiekrise überhaupt nicht zielgenau waren. Der Kampf gegen die Inflation ist nicht weniger als der Kampf um die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung. Ludwig Erhard hat immer wieder betont, dass die Soziale Marktwirtschaft ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar ist. Ersparnisse sind geparkte Leistungen. Diese gilt es zu schützen.
Wolfgang Steiger ist Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU e.V.
In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.