IWF und die EU

IWF warnt Europa vor anhaltender Reformschwäche

Europa ist in einer Wachstums- und Produktivitätskrise. Um gegenüber den USA wieder aufzuschließen, bedarf es nach Meinung des IWF neuer Anläufe bei der Vertiefung des Binnenmarkts und der Erweiterung der Gemeinschaft.

IWF warnt Europa vor anhaltender Reformschwäche

IWF warnt Europa vor anhaltender Reformschwäche

Neue Anläufe bei der Vertiefung des Binnenmarkts und der EU-Erweiterung würden die Region wieder näher an das US-Wachstumsniveau heranbringen

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Entwicklungen seit der letzten Beitrittsrunde analysiert und kommt zum Schluss: Nur mehr Reformen und ein noch größerer und stärker integrierter Binnenmarkt bringen Europa mehr Wachstum. Zudem wird die Widerstandskraft der Region gegen globale Schocks erhöht.

lz Frankfurt
Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die bislang letzte Erweiterungsrunde des EU-Binnenmarkts im Jahr 2004 hat der Gemeinschaft nach einem neuen Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) einen enormen Wachstumsschub beschert. In den neuen Mitgliedstaaten stieg die Pro-Kopf-Wertschöpfung im Schnitt um mehr als 30% an. Bei den bestehenden Mitgliedern hievte die Erweiterung das Pro-Kopf-BIP immerhin noch um 10% nach oben.

Grund dafür waren demnach vor allem die Reformanstrengungen in den neuen Mitgliedsländern, welche die unternehmerischen Freiheiten und den Markt gestärkt haben. Ferner kam es infolge der Erweiterung zu Skaleneffekten und Effizienzgewinnen für die ganze EU. Zudem sorgte der Transfer von Technologie und Bildung in den neuen EU-Staaten für eine höhere Produktivität. Und schließlich kam es zu einem enormen Investitionsschub gerade auch aus dem Ausland über Direktinvestitionen, die sich positiv auf das Wachstum niedergeschlagen hätten, weil Methoden, Maschinen und Infrastruktur modernisiert, Standorte optimiert und neue Fabriken aufgemacht worden sind.

Neuerliche Erweiterungsrunde

Nach den IWF-Berechnungen wurde damit die Innovationskraft und dadurch auch die Produktivität deutlich angehoben, weil der Aufwand für Forschung und Entwicklung sowie die Modernisierung der Fertigung dadurch finanziert wurden. Der Anteil der externen Finanzierung in den neuen EU-Mitgliedstaaten sei deutlich höher gewesen als in den bisherigen EU-Ländern – und sogar in den USA.

Angesichts der gegenwärtigen Technologie-, Innovations-, Wettbewerbs- und Wachstumsschwäche Europas fordern die IWF-Ökonomen daher nun vergleichbare Anstrengungen: weitere Reformen, eine Vertiefung des Binnenmarkts und eine neuerliche Erweiterungsrunde der EU, auch um sich als Region gegenüber Schocks von außen besser abzusichern.

Produktivität gesunken

Denn in jüngerer Zeit habe sich „die Dynamik verlangsamt und die Produktivitätsniveaus stagnieren“, beklagt der IWF und kritisiert, dass sich die Reformen zu sehr auf die unmittelbaren Beitrittsjahre konzentriert hätten und dann abgeebbt seien. Die jüngsten Wachstumsprobleme der EU lassen sich nach Meinung des IWF unmittelbar auf das schwache Produktivitätswachstum zurückführen. „Seit 2013 stagniert der Fortschritt in der EU“, schreiben die IWF-Ökonomen.

Aktuell liegt das Pro-Kopf-Einkommen in Europa gegenüber dem in den USA im Schnitt um ein Drittel niedriger. Um den Aufholprozess wieder zu starten und die Einkommenslücke zu schließen, empfiehlt der IWF daher, sich vor allem auf die Verengung der Produktivitätslücke zwischen Europa und der globalen Spitze zu konzentrieren.

Kernstück Binnenmarkt

Vehikel dafür ist nach Ansicht des IWF der Binnenmarkt, den er als „Kernstück der EU-Integration“ bezeichnet. Nach wie vor bestünden Handelshemmnisse bei Gütern und Dienstleistungen. Verbliebene Barrieren müssten abgebaut werden. Ein homogener Finanzbinnenmarkt könnte obendrein dafür sorgen, dass der Zugang zu langfristiger Finanzierung verbessert werde, was für Unternehmensinvestitionen entscheidend sei.

Wachstumsplus von 14 Prozent

Würde es neben einer weiteren Vertiefung des Binnenmarkts auch zu einer neuerlichen Erweiterung um die aktuellen Beitrittskandidaten kommen, veranschlagt der IWF das Wachstumsplus auf 14% im Verlauf der nächsten 15 Jahre. Die Konvergenz innerhalb Europas und zu den USA würde sich wieder beschleunigen.

Die IWF-Ökonomen bezweifeln indes, ob das aktuelle politische Umfeld für ein derartiges Unterfangen nach wie vor so förderlich ist wie Mitte der 2000er Jahre. Einerseits könnten eine „verstärkte Geofragmentierung“ und „Protektionismus“ die globalen Handelsgewinne einschränken sowie die Einkommen und das Produktivitätsniveau senken. Andererseits könnten die Fragmentierungstendenzen aber auch zu mehr ausländischen Direktinvestitionen in neue EU-Mitgliedstaaten führen, und es könnte zu einer Verlagerung von Produktion hinter Zollmauern kommen. Zumal die Unternehmen bestrebt seien, ihre Produktion zu diversifizieren.

Komplexe EU-Prozesse

Gleichzeitig sieht der IWF aber auch Gefahren für die EU in ihrer augenblicklichen politischen und strukturellen Verfassung. Denn mit einer Erweiterung würden die Formulierung und Umsetzung von EU-Richtlinien deutlich komplizierter werden. Der IWF rät deshalb zum „Überdenken der derzeitigen Entscheidungsprozesse“.