„Politischer Druck ist ein Risiko bei der Inflation“
Herr Professor Wieland, die Europäische Zentralbank (EZB) hält trotz verbesserten Wachstums- und Inflationsausblicks im Euroraum an der ultralockeren Geldpolitik und speziell dem erhöhten Kauftempo beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP fest. Ist das noch angemessen?
Das PEPP-Programm ist direkt auf die Coronakrise ausgerichtet. Ein Nebeneffekt ist, dass damit ein Großteil des Anstiegs der Staatsverschuldung finanziert wird. Nicht direkt, da die Mitgliedsstaaten zunächst die Schulden am Markt platzieren, aber indirekt, da die Notenbank dann wieder viele Anleihen am Markt aufkauft und stattdessen den Banken Notenbankliquidität bereitstellt. Damit hat die EZB die Staatsanleihezinsen niedrig gehalten. Wenn es sich abzeichnet, dass die Wirtschaftsaktivität das Vorkrisenniveau bald wieder überschreitet – und da sind wir wohl –, sollte die EZB die Anleihekäufe unter diesem Pandemie-Notfallprogramm verlangsamen und einen mittelfristigen Ausstiegspfad skizzieren.
Also ist es jetzt eigentlich Zeit für den Einstieg in den Ausstieg?
Insgesamt gesehen sollte die EZB proportional auf einen verbesserten Inflationsausblick reagieren. Das sagen alle geldpolitischen Regeln. Ein größeres Deflationsrisiko, mit dem man eine asymmetrische Reaktion begründen könnte, sehe ich nicht.
Die Euro-Hüter sind absolut überzeugt, dass der jüngste starke Inflationsanstieg temporär ist. Kann man sich da so sicher sein?
Mit dem Anstieg der Inflation und weiterhin extrem niedrigen Nominalzinsen kommt ein weiterer Rückgang der realen Zinsen. Das stimuliert die Nachfrage und mit Verzögerung auch die Lohn- und Preissetzung. Wenn also die Nominalzinsen nicht nachziehen, bleibt der Inflationsanstieg auch nicht temporär. Ziel wäre es, dass die Geldpolitik das so begleitet, dass mittelfristig eine Normalisierung der Inflationsrate nahe 2% erfolgt. Kurzfristig wird die Rate wohl überschießen. Wenn sich das verfestigt, muss die EZB aber eben nachjustieren. In jedem Fall sollte sie erklären, wie sie die längerfristige Entwicklung ihrer Bilanz sieht.
Einige Notenbanker liebäugeln ganz offen mit über dem 2-Prozent-Ziel liegenden Inflationsraten – nach Jahren unterhalb des Zielwerts. Wie beurteilen Sie das?
Das ergibt sich dieses Jahr vielleicht sowieso. Wichtig bleibt, dass die Politik ausreichend reagiert, so dass sich die Inflation dann danach wieder von oben her auf das Ziel einpendelt.
Ex-EZB-Ratsmitglied und Geldpolitikexperte Athanasios Orphanides hat im Interview der Börsen-Zeitung argumentiert, dass die lange Jahre zu niedrige Inflation im Euroraum ein Beleg dafür sei, dass die EZB-Politik viele Jahre unangemessen straff gewesen sei. Wie schätzen Sie das ein?
Nun, da geht es um die quantitative Lockerung und die Frage, ob mehr besser gewesen wäre. Aber man würde ja die Dosis eines Medikaments, das kaum die gewünschte Wirkung zeigt, aber unangenehme Nebenwirkungen hat, auch nicht unbedingt erhöhen. Vielleicht würde man das Medikament sogar absetzen.
Sie teilen diese Sicht also nicht?
Ich denke, die niedrige Inflation nach der Finanzkrise bezieht sich insbesondere auf die mit dem harmonisierten Verbraucherpreisindex gemessene Inflationsrate. Da spielten im Durchschnitt rückläufige Importpreise für Konsumgüter und -dienstleistungen insbesondere seit 2013 eine wichtige Rolle. Wenn man etwas breiter schaut, sieht man, dass die Inflation gemessen an den im Euroraum produzierten Gütern und Dienstleistungen zeitweise deutlich über der HVPI-Inflation lag und im Zuge der geldpolitischen Lockerung von 2013 bis 2019 nahe an das Ziel der EZB gerückt ist. Das stimmt auch etwas optimistischer bezüglich der Wirkung der quantitativen Lockerung auf die inländische Entwicklung.
In den USA ist die Inflation noch stärker angestiegen, auf mehr als 4%, zugleich steht die Wirtschaft vor einem Boom. Ist die Zeit für die US-Notenbank Fed reif, die Anleihekäufe zu drosseln – also für das viel zitierte „Tapering“?
Ich denke schon, denn auch die Wirtschaft scheint sich doch zügig vom Coronaschock zu erholen. Zudem ist die US-Fiskalpolitik äußerst expansiv und die Schulden steigen schnell. Wenn nun die längerfristigen Zinsen ebenfalls ansteigen, schlägt sich das in der Zinslast der USA möglicherweise früher nieder, als das derzeit noch erwartet wird. Derzeit geht man davon aus, dass man noch gut fünf Jahre Zeit hat, bevor die Zinsausgaben des Staates deutlich anziehen.
Einige Beobachter befürchten, dass die Fed den Fehler der 1970er Jahre wiederholen könnte und einem Anstieg der Inflation zu lange zuschaut. Für wie groß halten Sie die Gefahr? Und was würde das für die Weltwirtschaft bedeuten?
Ich finde es wichtig, das zu diskutieren. Die empirische Forschung zeigt zudem historisch einen Zusammenhang zwischen Inflation und Staatsverschuldung. Auch das unterstreicht dieses Risiko. Denn die Notenbank kommt dann, wenn sie die Inflation durch Zinserhöhungen eindämmen will, unter politischen Druck, wenn dies die Zinslast für den Staat ebenfalls deutlich erhöht. Deshalb würde ich eher früher mit moderaten Schritten beginnen. Es war schon bemerkenswert, dass es Finanzministerin Janet Yellen war und nicht Notenbankchef Jerome Powell, die meinte, wenn es nötig wäre, würde man dann die Geldpolitik straffen.
Zum Schluss noch einmal zurück zur EZB: Die Euro-Hüter überarbeiten aktuell ihre geldpolitische Strategie und steuern unter anderem auf ein neues, klares Inflationsziel von 2% zu. Was halten Sie davon und was sollte darüber hinaus unbedingt Ergebnis der Strategy Review sein?
Unsere empirischen Schätzungen von Zinsreaktionsfunktionen zeigen, dass die EZB-Politik der vergangenen 20 Jahren mit einem Ziel von etwa 1,75% konsistent war, und die Zinsreaktion war symmetrisch. EZB-Stabsstudien kommen zu dem gleichen Ergebnis. Eine Erhöhung auf 2% würde also keinen großen Unterschied machen. Viel wichtiger fände ich es, dass die EZB auf breitere Preismaße und nicht nur auf den harmonisierten Verbraucherpreisindex schaut. Der hing in den vergangenen Jahren sehr stark von einer günstigen Importpreisentwicklung ab. Das war der Grund, warum die so gemessene Inflation niedriger ausfiel als das Ziel. Sinnvoll wäre es, die Preisentwicklung bei den Gütern und Dienstleistungen, die im Euroraum produziert werden, zu berücksichtigen. Dann werden auch die schnell steigenden Kosten für die Schaffung neuen Wohnraums besser berücksichtigt.
Die Fragen stellte Mark Schrörs.