Russlands Wirtschaft implodiert
rec/est Frankfurt/Moskau
In einer denkwürdigen Woche ist Russland an den Rand einer Staatspleite und in eine schwere Wirtschaftskrise getaumelt. Die führenden Ratingagenturen quittierten die Finanz- und Wirtschaftssanktionen des Westens mit drastischen Herabstufungen von Russlands Bonität auf Ramschniveau. Auch bei den Menschen und Unternehmen in Russland kommen die Sanktionen mit Wucht an. Die Inflation dürfte stark steigen, die Wirtschaftsleistung einbrechen.
Am späten Donnerstagabend hat auch S&P Global Ratings die Bonität des Landes abgesenkt – und zwar gleich um acht Stufen auf „CCC–“. Damit fehlen nur noch zwei Schritte bis zur Einstufung Zahlungsausfall (Default). S&P behält sich dies mit dem Ausblick „negativ“ vor. Zuvor hatten bereits Fitch und Moody’s Russlands Bonitätsnoten um jeweils sechs Stufen gekappt. Binnen 24 Stunden hat Moskau somit durch die Bank sein Investment-Grade-Rating verloren. Den Abwertungsreigen eröffnet hatte am Dienstag die europäische Ratingagentur Scope.
Notenbank will verhandeln
Auslöser sind die weitreichenden Sanktionen europäischer Staaten und der USA in Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Am heftigsten trifft Moskau die unerwartete Entscheidung westlicher Regierungen, im Ausland liegende Währungsreserven der russischen Zentralbank einzufrieren. Dieser in der Finanzgeschichte beispiellose Schritt hat die Handlungsfähigkeit der Notenbank gegen den Absturz der Landeswährung Rubel dramatisch eingeschränkt.
Die Zentralbank setzt nun offenbar auf Verhandlungen, um wieder Zugriff auf ihre eingefrorenen Gold- und Devisenreserven zu bekommen. Das berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Man sei zudem zuversichtlich, dass Russland über ausreichende Mittel verfüge, um seinen Haushaltsverpflichtungen im Jahr 2022 nachzukommen, meldete die russische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf einen stellvertretenden Finanzminister.
Genau daran haben die Ratingagenturen massive Zweifel. S&P begründete ihre drastische Herabstufung ähnlich wie Fitch und Moody’s mit Kapitalverkehrskontrollen und weiteren Maßnahmen der russischen Regierung. Diese hinderten ausländische Anleihegläubiger daran, Zins- und Tilgungszahlungen aus Moskau pünktlich zu erhalten. Berichten zufolge hat das russische Finanzministerium am Donnerstag zwar einen fälligen Kupon auf eine Rubelanleihe mit Fälligkeit 2024 gezahlt. Das Geld kommt aber nicht bei ausländischen Investoren an, weil die Zentralbank auf Geheiß der Regierung größere Transfers ins Ausland verhindert. Laut Reuters muss Russland im März Staatsanleihen im Wert von über 700 Mill. Dollar an seine Gläubiger zurückzahlen.
Nicht nur Russlands Bonität gerät immer stärker unter Druck. Auch der russischen Wirtschaft drohen heftigste Verwerfungen. Die Analysten der US-Großbank J.P. Morgan sagen für das zweite Quartal einen Absturz des Bruttoinlandsprodukts von 35% voraus. Im Gesamtjahr 2022 dürfte die Wirtschaftsleistung demnach um 7% einbrechen. Sollten zusätzliche Sanktionen, gar ein Embargo oder Boykott russischer Öl- und Gaslieferungen das Land weiter isolieren, könnte es noch schlimmer kommen.
Bereits wenige Tage nach der Einführung der Sanktionen spüren die Menschen die ersten Auswirkungen. Sie können ihr Guthaben am Mobiltelefon nicht mehr aufladen, weil Apple Pay abgeschaltet wurde. Bankautomaten spucken vereinzelt kein Geld mehr aus. Toilettenpapier kostet von einem Tag auf den nächsten 10% mehr. Die Zinsrate auf den laufenden Kredit für Wohnungen – oder wie in Russland so oft auf einen einfachen Verbraucherkredit – ist plötzlich doppelt so hoch, seit die Zentralbank zur Abwendung eines Bank Run und zur Stützung des kollabierenden Rubel den Leitzins auf 20% mehr als verdoppelt hat. Nachdem der Möbelkonzern Ikea am Donnerstag seinen Weggang angekündigt hatte, bildeten sich vor Filialen lange Warteschlagen, es kam zu Hamsterkäufen. Und auf Kinoleinwänden laufen zur Unterstützung der heimischen Filmindustrie russische Produktionen statt der üblichen westlichen.
Sollte das Beispiel der DNS-Handelskette für Elektrowaren Schule machen, steht Konsumenten Schlimmes bevor: Aufgrund von Panikkäufen hob DNS die Preise vorübergehend um 30% an, ehe die Kartellbehörde intervenierte. Wegen des Massenexodus ausländischer Firmen und unterschätzter Logistikprobleme drohen vielerorts Engpässe. Branchenexperten sehen etwa auf die Autohersteller riesige Probleme zukommen, weil die Zulieferung von Komponenten zu stocken beginnt. Importeure aus der Türkei können aus Sicherheitsgründen nicht mehr auf russische Lastwagen zurückgreifen und müssen mit bulgarischen arbeiten. Erste Meldungen tauchten auf, dass chinesische Exporteure nach Europa die Züge für den Transit durch Russland nicht mehr beladen.
Das wird in Kombination mit den Folgen des Rubelverfalls auf die Inflation durchschlagen. Sie lag schon vor Kriegsbeginn bei 8%. In einer Umfrage des russischen Wirtschaftsmediums „The Bell“ sprach eine Reihe von Ökonomen von einem „unvermeidbaren Inflationsschock“.