Standort Deutschland zwischen Abbruch und Aufbruch
Standort Deutschland zwischen Abbruch und Aufbruch
Die drei politischen Herausforderungen zur Zukunftssicherung der deutschen Wirtschaft.
Von Stephan Lorz, Frankfurt
So manches ist heute schon Wirklichkeit, das gestern noch als Science Fiction abgestempelt worden war: In China fahren fußballgroße Roboter gemeinsam mit menschlichen Polizisten auf Streife und verfolgen autonom mögliche Straftäter. Neue Generationen von KI-Sprachassistenten verstehen komplexe Fragen und führen Befehle eigenständig aus. Und eine neue Generation von Quantencomputern ist bisherigen Siliziumrechnern so weit überlegen, dass sogar individuelle Medikamente im Bereich des Möglichen sind. Von ganz neuen Materialmischungen mit neuen Eigenschaften ganz zu schweigen.
Die Welt, wie wir sie kennen, ändert sich in rasantem Tempo, setzt aber auch eine fluidere Wirtschaftsstruktur voraus, die sich neuen Anforderungen zügig anpasst. Voraussetzung sind leistungsfähigere Datennetze, billiger Strom in rauen Mengen und eine Durchdigitalisierung der Gesellschaft, damit Anpassungen der Unternehmen quasi mit einem Mausklick möglich sind, Investitionen unverzüglich umgesetzt werden können. Der Staat muss diese Entwicklung fördern – vor allem müssen seine eigenen Strukturen technisch mithalten können.
Kämpfe von gestern
Doch statt diese Herausforderung anzugehen, werden im laufenden Bundestagswahlkampf die Kämpfe von gestern ausgefochten. Es geht offensichtlich nicht um das Morgen, sondern um ein Zurück in die Vergangenheit, wo alles besser gewesen sein soll.
Gewiss sind – erstens – zunächst „Aufräumarbeiten“ nötig, weil viele Weichen in den vergangenen 20 Jahren falsch gestellt wurden. Das gilt vor allem für die Energiepolitik, wo eine neue Planwirtschaft für enorme Verwerfungen sorgt. Oder bei der Renten- und Sozialpolitik, wo demografische Veränderungen weiter negiert werden. Auf beiden Feldern sind die Probleme so gewaltig, dass für sich genommen schon eine neue Agenda-Politik nötig wäre wie 2003 mit den „Hartz-Reformen“. Doch die bislang präsentierten Lösungsansätze changieren zwischen unzureichend, untauglich und kontraproduktiv.
Die aktuellen konjunkturellen und strukturellen Probleme kommen – zweitens – noch obendrauf: zu wenig Investitionen, Fehlanreize, Technologielücken, Überbürokratisierung, hohe Energiekosten und Steuerbelastung. Das muss zunächst abgeräumt werden, soll die Wirtschaft wieder wachsen, um den dritten Problemkomplex angehen zu können.
Entfesselung der Wirtschaft
Denn es geht – drittens – um einen umfänglichen Reboot des Standorts, damit dieser für die neuen Technologien fit wird. Hierfür fehlt den Parteien offenbar die Fantasie, weil sich in den Wahlprogrammen außer ein paar Schlagworten keine konkreten Vorhaben identifizieren lassen: Mit Staatsgeld wird die Konservierung alter Industrien versprochen, weswegen es an Finanzmitteln fehlt, um neue Wertschöpfungsquellen zu erschließen. Und hierfür braucht es bessere digitale Netze, mehr Freiheiten für Startups, eine schnellere Verwaltung, ganz allgemein weniger Vorschriften und leichteren Zugang zu privatem Kapital über einen europaweiten integrierten Finanzmarkt. Erst dann können sich die Marktkräfte richtig entfalten.
Manches ist kostenfrei zu liefern, manches muss mit Investitionen erkauft werden. Doch schon die Vorhaben scheitern oftmals an Bedenkenträgern in Politik und Verwaltung, und an Bürokraten, die jeden „Wildwuchs“ auf Behördenmaß zusammenschneiden möchten, um das Heft in der Hand zu behalten.
Günstiger Strom fehlt
Obendrein fehlt es in Deutschland just an jenem Stoff, der in den Adern der Digitalwirtschaft fließt: reichlich günstiger Strom. Dass Dunkelflauten Industriebetriebe stilllegen, hohe Energiekosten Unternehmen außer Landes treiben und große Investitionen gestoppt werden, hat die Politik selbst zu verantworten. Zu lange träumte sie vom Schlaraffenland, weil Sonne und Wind keine Rechnung schicken würden. Doch um eine stabile und günstige Stromversorgung rund um Erneuerbare aufzubauen, braucht es mehr. Sich dann noch von der Umweltbewegung zu einem fossilen Blitz-Ausstieg drängen zu lassen, ist zudem geradezu verantwortungslos.
Dabei ist das Vorhandensein der Edelenergie Strom nicht nur für die Digitalisierung entscheidend, sondern auch für Mobilität (E-Autos), Industrie (grüner Wasserstoff) und Privathaushalte (Wärmepumpen). Weil die Politik die Sicherung der Stromversorgung nicht mit dem gebührenden Ernst angegangen ist, steht nun alles infrage: Energietransformation und die Digitalisierung gleichermaßen.
Die Richtung muss klar sein
Dass der Weg auf die nächste technologische Stufe nicht einfach wird, war klar. Dass die Bevölkerung bis dahin aber zumindest den Hauch einer schlüssigen Strategie braucht, um den Weg mitzugehen und nicht in Populismus und Extremismus abzudriften, ist ebenfalls offensichtlich. Womöglich könnte die Politik aus der Not ihres Unwissens und ihrer Sorge um verprellte Wähler eine Tugend machen und als ersten Schritt dem Markt einfach mehr Raum zur Entfaltung geben. Das war schon zum Start der Sozialen Marktwirtschaft das Patentrezept. Doch muss die Richtung klar sein, und bedarf zuvor großer Investitionen, um die marode Infrastruktur zu modernisieren, auf der das geschieht. Ob dafür die Schuldenbremse geopfert oder ein neues Sondervermögen aufgelegt werden muss, ist zweitrangig, sollte aber erst am Ende der Neukonfiguration der deutschen Wirtschaftspolitik entschieden werden.
Wo genau die Stellschrauben für die Politik für einen neuen, aber flexibleren Ordnungsrahmen der Wirtschaft liegen, lesen Sie auf den folgenden Seiten.
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