„Transformation weckt im Osten ungute Gefühle“
Im Interview: Joachim Ragnitz
„Transformation weckt im Osten ungute Gefühle“
Wahldebakel in Sachsen und Thüringen wegen „entrückter“ Berliner Politik – Konjunkturkrise verstärkt Abstiegsängste
Der stellvertretende Leiter der Ifo-Dependance in Dresden warnt die Politik vor einem „Weiter so“. Um die Wähler wiederzugewinnen, müssen die Ampel-Parteien weniger die Kommunikation, sondern mehr ihre inhaltlichen Positionen überdenken und einen Politikwechsel einleiten.
Herr Ragnitz, viele in der Politik führen das Wahlverhalten in Sachsen und Thüringen auf die spezifischen Nöte und Entwicklungen in diesen Bundesländern zurück. Was ist „ostdeutsch“ daran, dass rechtsextrem und populistisch gewählt wurde?
Unsere Studien auf der Basis von Individualdaten zur Parteienpräferenz zeigen schon einen deutlichen Ost-Effekt, unabhängig von sonstigen Einflussfaktoren. Ich erkläre mir das dadurch, dass viele Wähler in den ostdeutschen Bundesländern aufgrund ihrer Sozialisation eher skeptisch gegenüber einer als „entrückt“ angesehenen Politik sind. Auch weil die DDR-Führung früher ja so reagiert hat. Auffällig ist zudem, dass viele AfD-Sympathisanten wenig Vertrauen in Bundesregierung oder Landesregierungen haben, sie sich benachteiligt fühlen und Sorgen haben, dass ihr künftiger Lebensstandard eher sinken wird. Letzteres ist aus den objektiven ökonomischen Daten indessen nicht festzustellen. Derlei Sorgen dürften auch in Westdeutschland verbreitet sein, nur dass es im Osten tendenziell eben mehr Menschen gibt, die dieses Gefühl beschleicht.
Also keine harten Fakten, die das Gefühl des Abgehängtseins Ostdeutschland erklären?
Spezielle Nöte in Ostdeutschland kann ich ehrlich gesagt nicht ausmachen. Natürlich ist die Region in weiten Teilen strukturschwach und von der Demografie stark getroffen. Aber wiederum auch nicht so stark, dass solch hohe Zustimmungswerte für die AfD und den BSW erklärt werden könnten. Das ist dann wohl doch eher diese Politikverdrossenheit, die sich in den letzten 30 Jahren aufgestaut hat. Und das auch, weil den Ostdeutschen ja immer wieder Geduld abverlangt wurde, bis es etwa zur Angleichung der Lebensverhältnisse kommt, obwohl ziemlich klar ist, dass es flächendeckend dazu nicht kommen wird.
Hat die Politik hier zu große Versprechungen gemacht?
Zum Teil sicher. Es wurden Erfolgsgeschichten verkündet, obwohl das mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen im Osten nichts zu tun hat. Erinnern Sie sich noch an die Thierse-These „Der Osten steht auf der Kippe“ von 2001? Das hätte man damals als Warnzeichen hernehmen müssen, wurde dann aber schnell als Miesmacherei verunglimpft, so dass man sich mit möglichen Konsequenzen für Politik und Kommunikation nicht auseinandersetzen musste. Allgemein fehlte die kommunikative Offenheit, dass man einerseits zwar die Erfolge der Politik besser hätte verkaufen, andererseits aber auch deutlicher die Missstände hätte benennen müssen.
Welche spezifische Rolle spielt die Migration? Angst vor Kontrollverlust? Oder Angst vor Veränderung?
Es ist aus meiner Sicht viel Veränderungsangst dabei. Viele Leute sagen ja: Es soll bei uns nicht so werden wie in Duisburg-Marxloh oder in Berlin-Neukölln. Dass es das nicht wird, nur weil der Anteil von Zuwanderern von 5% auf 10% steigt, lässt sich ja vielfach nicht vermitteln. Und als Bereicherung sehen viele Menschen im Osten den Begriff „Vielfalt“ ja eben auch nicht.
Aber Migration allein dürfte nicht diesen Erdrutschsieg der AfD erklären.
Veränderungsangst bezieht sich in der Tat nicht allein auf Migration, sondern auf viele Bereiche wie Klimaschutz, Strukturwandel, Gendersprache; und das wird häufig als unerwünscht angesehen. Weil man Sorge hat, dabei auf die Verliererseite zugeraten, aber auch weil Ältere, die ja im Osten in der Mehrheit sind, grundsätzlich eher veränderungsunwillig sind.
Wenn man bestimmte Maßnahmen gegen den Mehrheitswillen durchsetzen will, muss man vorher die Menschen davon überzeugen und darf das nicht mit dem Holzhammer versuchen. Da hat die Ampel-Regierung in der Vergangenheit einiges falsch gemacht.
Joachim Ragnitz
Was müsste die Politik jetzt anpacken, um die Wähler wieder mit Demokratie und den Parteien der Mitte zu versöhnen?
Na ja, Politik sollte sich schon am Willen des Volkes orientieren. Und wenn man als Politiker bestimmte Maßnahmen gegen den Mehrheitswillen durchsetzen will, muss man vorher die Menschen davon überzeugen und darf das nicht mit dem Holzhammer versuchen. Da hat die Ampel-Regierung in der Vergangenheit einiges falsch gemacht, weshalb die drei tragenden Parteien so starke Stimmenverluste hinnehmen mussten. Und die jetzt kurz vor der Wahl vermeintliche Härte in der Migrationspolitik, beispielsweise mit dem jüngsten Abschiebungsflug, wird dann auch nicht mehr ernst genommen, sondern als Wahlkampfmanöver durchschaut.
Kriegt die Ampel vor diesem Hintergrund noch eine Wende hin? Und kann sie das Vertrauen zurückgewinnen?
Wenn man sich die Stimmenverteilung ansieht, haben im Moment eher konservative Parteien eine deutliche Mehrheit in Sachsen und Thüringen – und in allen anderen Bundesländern wohl auch. Das heißt, für die von SPD, Grünen und FDP reklamierte „Fortschrittskoalition“ gibt es keine Mehrheiten mehr. Von einer Regierung sollte man also erwarten: konsequente Abschiebung von kriminellen Zuwanderern, Begrenzung von Migration entsprechend den Vorgaben von Grundgesetz und Völkerrecht, Austarierung von Sozial- und Wirtschaftspolitik, eine rationale Klimaschutzpolitik usw. Ob die Ampel-Parteien das noch hinkriegen, ist aber fraglich.
Populisten haben in der Regel keine Lösungen, sondern schreiben in ihre Wahlprogramme, was das Wahlvolk hören will.
Joachim Ragnitz
Spielen auch andere globalen Entwicklungen wie die Globalisierung Rechtsextremen und Populisten in die Hände?
Populisten haben in der Regel keine Lösungen, sondern schreiben in ihre Wahlprogramme das, was das Wahlvolk hören will. Damit würden sie an der Realität scheitern, sollten sie in die Regierung kommen. Wovor die Menschen Angst haben, weiß ich auch nicht so genau, zumal Ängste ja häufig irrational sind. Ich vermute: Vor allem die Migration ist’s.
Der Finanzkapitalismus macht heute wohl nur den wenigsten Angst.
Joachim Ragnitz
Welche Rolle spielt die Wirtschaft? Das fehlende Wachstum? Der moderne Finanzkapitalismus, die Sorge vor ökonomischer Fremdbestimmung?
Der Finanzkapitalismus macht heute wohl nur den wenigsten Angst; das war vor 15 Jahren vielleicht mal anders. Und wenn, dann sind das wohl eher Themen, die im linken Parteienspektrum mobilisierend wirken. In der Breite sind es wohl verschiedene Krisen wie Migration, Nachwirkungen von Corona, das Gefühl, dass die Regierung die Probleme nicht mehr lösen kann und stattdessen in starkem Maße in das Privatleben der Menschen eingreift. Die Konjunkturkrise kommt einfach nur noch obendrauf. Und das Wort „Transformation“ weckt gerade im Osten ungute Gefühle an die Transformation nach der Wiedervereinigung, die in Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit mündete. Das will man gerade hier ja nicht wieder erleben. Insoweit ist es wohl eher eine unbewusste Sorge vor einem zu schnellen Strukturwandel in Zukunft, der die Menschen verunsichert.
Vor allem viele junge Männer wählen AfD und offenbar viele alte Männer den BSW. Was kann man daraus ablesen?
Junge Menschen wählen ohnehin eher Parteien am Rand – früher wohl eher links, heute dann wohl eher rechts. Das ändert sich aber im Regelfall, wenn sie mehr Lebenserfahrung erwerben, im Berufsleben stehen, möglicherweise eine Familie gründen. Und junge Männer sind in einer Gesellschaft mit Männerüberschuss ohnehin empfänglich für Positionen, wie sie die AfD anbietet; da gibt es ja wohl auch so eine Art Gruppenzwang. Man könnte natürlich versuchen, durch mehr politische Bildung in den Schulen etwas zu verändern, aber das sind eher längerfristige Prozesse und erreicht wahrscheinlich ohnehin eher die besser gebildeten Gruppen. Die „vielen alten Männer“ – fehlt da nicht noch das Adjektiv „weiß“? – sind wahrscheinlich eher die, die Veränderungen ablehnen, möglicherweise auch früher mal den Linken nahestanden. Und denen die AfD zu plump rüberkommt, zumindest jene Teile rund um den rechtsextremen Flügel. Die erreicht man also bestenfalls durch eine andere Art von Politik. Ob das noch gelingt, vermag ich aber nicht einzuschätzen.
Die CDU darf sich nicht auf eine Populismus-Schlacht einlassen.
Joachim Ragnitz
Was müssen die demokratischen Parteien am dringendsten tun, um wieder das Vertrauen der Wähler zu gewinnen?
Die CDU darf sich nicht auf eine Populismus-Schlacht einlassen, wie das zumindest in Sachsen teilweise der Fall war und auch auf Bundesebene immer mal anklingt. Die Grünen müssten ihre ideologisch geprägten Vorhaben überdenken. Die SPD hatte mal eine Kernkompetenz beim Sozialen, die man ihr wohl nicht mehr zutraut. Denn soziale Gerechtigkeit heißt ja nicht unbedingt nur Leistungsverbesserungen für die vermeintlich Benachteiligten, sondern auch Belohnung von Leistung, was gerade die Mitte dann auch ansprechen könnte. Und die FDP hat den Osten ohnehin verloren.
Also keine Hoffnung auf politischen Wandel auf absehbare Zeit?
Das Vertrauen ist ja auch nicht grundsätzlich weg. Die Wahlumfragen im Westen zeigen AfD und BSW höchstens mal bei zusammengenommen 25%, in den meisten Bundesländern deutlich weniger. Deren Stärke ist also primär im Osten. Nur sollten die demokratischen Parteien diesmal tatsächlich mal ihre Hausaufgaben machen und selbstkritisch ihre inhaltlichen Positionen überdenken und dann – daraus abgeleitet – einen Politikwechsel durchführen.
Das Interview führte Stephan Lorz.