Im Interview:Marcel Fratzscher, Präsident des DIW

„Wir brauchen einen unabhängigen Fiskalrat“

DIW-Chef Marcel Fratzscher hält die Investitionsoffensive der neuen Bundesregierung zwar für zwingend, allerdings zweifelt er, ob die Sondervermögen tatsächlich für neue Investitionen hergenommen werden. Zudem vermisst er Weichenstellungen für mehr Generationengerechtigkeit.

„Wir brauchen einen unabhängigen Fiskalrat“

Im Interview: Marcel Fratzscher

„Wir brauchen einen unabhängigen Fiskalrat“

DIW-Chef Fratzscher hat Zweifel an der Integrität der Finanzpolitik nach der Grundgesetzentscheidung – Reform der Sozialsysteme dringlich

DIW-Chef Marcel Fratzscher hält die Investitionsoffensive der neuen Bundesregierung zwar für zwingend, allerdings sorgt er sich, ob die Sondervermögen tatsächlich für neue Investitionen hergenommen werden. Stärker denn je sollte sich die Politik auch der Generationengerechtigkeit annehmen und neue Weichenstellungen vornehmen.

Herr Fratzscher, Sie halten die aktuellen Finanzpakete für mehr Investitionen in Infrastruktur und Bundeswehr über Sondervermögen und eine aufgebohrte Schuldenbremse für „nicht die beste Lösung“. Warum ist das der falsche Weg?

Ein Sondervermögen ist eigentlich das falsche Konstrukt, um dauerhaft höhere öffentliche Investitionen in Infrastruktur oder Bildung zu finanzieren. Daueraufgaben sollten prinzipiell immer über den Kernhaushalt finanziert werden. Zudem setzt ein Sondervermögen die demokratischen Kontrollmechanismen ein Stück weit außer Kraft, da dieses nicht den gleichen Anforderungen an Transparenz und Rechenschaft unterliegt wie der reguläre Haushalt, bei dem die Parlamente ein deutlich größeres Mitspracherecht haben. Und drittens können Sondervermögen auf nationaler Ebene zu Konflikten mit den europäischen Regeln führen und somit auch gemeinsame europäische Absprachen unterminieren.

Über Jahre hinweg versäumte Investitionen nun nachzuholen, ist aber auch in Ihrem Sinne, oder?

Als Wissenschaftler, der evidenzbasiert arbeitet, sehe ich die dringende Notwendigkeit für deutlich höhere öffentliche Investitionen durchaus. Ohne diese und andere Reformen wird die Transformation der deutschen Wirtschaft nicht gelingen; viele gute Arbeitsplätze und Wohlstand werden verloren gehen. Das Sondervermögen ist sicherlich nicht die beste Lösung, aber es ist deutlich besser, als weiterhin nichts zu tun und den wirtschaftlichen Niedergang zu verwalten. Wir als DIW Berlin haben bereits vor zwölf Jahren in mehreren Studien auf die Investitionslücke in Deutschland hingewiesen. Damals gab es einen Wirtschaftsboom, und unsere Analysen wurden zu einem großen Teil ignoriert. Heute ist es umso dringlicher, dass Politik und Wirtschaft jetzt handeln.

Wie groß ist die Gefahr, dass das Sondervermögen missbraucht wird zur Entlastung des Kernhaushalts von lästigen Investitionen, um mehr Raum für Klientelpolitik zu haben?

Eine große Schwäche des Sondervermögens ist in der Tat – auch nach der jüngsten Anpassung – die Gefahr, dass es zu Ausgabenverschiebungen kommt und das neue Geld nicht für zusätzliche Investitionen, sondern auch für konsumtive Ausgaben verwendet wird. Ich finde das Vorgehen von Union und SPD schier unglaublich: Nur wenige Tage nach der Vorstellung der Pläne zum Sondervermögen gaben sie nach den ersten Sondierungen bekannt, jedes Jahr 64 Mrd. Euro an zusätzlichen Ausgaben für Rente und andere Wahlgeschenke sowie Steuersenkungen tätigen zu wollen.

Aber das dürfte nach der von den Grünen veranlassten Korrektur nun schwerer werden.

Ist aber nicht ausgeschlossen. Zudem war keine Rede von Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen, ferner wurde nicht darauf hingewiesen, dass der Bundeshaushalt bereits jetzt stark defizitär ist und Löcher geschlossen werden müssen. Union und SPD haben Zugeständnisse gemacht, aber ich habe weiter große Zweifel an der integren Umsetzung. Zumal der öffentlichen Hand – vor allem auf kommunaler Ebene – die Kapazitäten fehlen, um so große Summen in Investitionen umzusetzen.

Wie könnte man das absichern?

Wir brauchen dringend einen unabhängigen Fiskalrat, der Zugang zu relevanten Daten hat und dokumentieren kann, inwiefern das Versprechen der künftigen Bundesregierung auch wirklich eingehalten wird. Das Sondervermögen darf nicht dazu führen, dass Rechenschaft und Transparenz über Bord geworfen werden.

Ratingagenturen halten die höhere Staatsverschuldung Deutschlands für tragbar. Einige Ökonomen verweisen aber auf die steigende Schuldenlast für die kommenden Generationen und lehnen das „Schuldenpaket“ ab. Was bedeutet dies für die Staatsfinanzierung in der Zukunft?

Wir Deutschen haben eine Obsession mit Schulden und Sparen. Das Finanzpaket der Koalitionspartner nun als Schuldenpaket zu bezeichnen, ist despektierlich und geht am eigentlichen Punkt vorbei. Schulden sind das Spiegelbild von Ersparnissen. Deutschlands Problem heute ist nicht, dass der Staat eine zu hohe explizite Staatsverschuldung durch Kredite und Anleihen hätte – die Staatsschuldenquote von 63% ist die geringste der großen Industrieländer und auch absolut eher gering. Vielmehr liegen die Probleme in anderen Bereichen.

Wo genau?

Zum einen sind die öffentlichen Vermögenswerte in den letzten 25 Jahren geschrumpft. Die Nettoinvestitionen des Staates waren jedes Jahr durchgehend negativ, sodass der Staat von seiner Substanz gelebt hat und die Rahmenbedingungen für private Investitionen heute zu schlecht geworden sind. Zum anderen bestehen erhebliche implizite Staatsschulden in Form von Verpflichtungen in den Sozialsystemen, primär gegenüber den Babyboomern. Die Stiftung Marktwirtschaft hat diese implizite Staatsverschuldung auf 300% der jährlichen Wirtschaftsleistung geschätzt. Auch wenn solchen Berechnungen viele Annahmen zugrunde liegen, halte ich sie für realistisch, und der Unterschied zur expliziten Staatsverschuldung zeigt überdeutlich, wo das eigentliche Problem liegt.

Sie sprechen in einem Kommentar von einer „gigantischer Umverteilung“. Wie kann man diese Fehlentwicklungen korrigieren? Rentenkürzungen? Höheres Renteneintrittsalter? Anpassungen künftig nur an die Inflationsrate?

Das Problem Deutschlands heute ist nicht, dass der Sozialstaat zu groß ist. Die soziale Marktwirtschaft mit dem Konzept der Solidarität und der gemeinsamen Absicherung ist eine große Stärke und die Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Ich halte Forderungen nach pauschalen Beschneidungen des Sozialstaats – etwa durch Kürzungen bei Bürgergeld, Rente oder bei Pflege und Gesundheit – für falsch und schädlich. Die Sozialsysteme müssen zum einen effizienter werden, zum anderen muss die Verteilungsfrage thematisiert werden. Hier gibt es eine Unwucht. Die politische Antwort auf den demografischen Wandel war fast immer eine noch stärkere Umverteilung von Jung zu Alt. Inzwischen richtet dies wirtschaftlichen Schaden an, den es nun zu korrigieren gilt.

Wie sollte die Politik reagieren?

Sicherlich in einem gewissen Umfang, indem die Babyboomer auf einige Leistungen verzichten, etwa durch ein höheres Renteneintrittsalter für diejenigen, die es können. Wir brauchen aber vor allem weniger Umverteilung von Jung zu Alt und mehr Umverteilung von Reich zu Arm. Zumal manche unserer Sozialsysteme eher eine Umverteilung von Arm zu Reich bewirken. Menschen mit geringen Einkommen haben eine 5 bis 6 Jahre geringere Lebenserwartung bei Renteneintritt als Menschen mit hohem Einkommen. Kurz gesagt: Wir brauchen dringend Reformen der Sozialsysteme, bei denen starke Schultern wieder einen größeren Anteil der Last tragen und gleichzeitig das Prinzip der Solidarität gewahrt bleibt.

Was halten Sie von verstärkten Anstrengungen, den Umlagesystemen ergänzend auch Systeme auf der Basis der Kapitaldeckung beiseitezustellen wie in anderen Ländern auch?

Der Ausbau der privaten Altersvorsorge ist ein dringend benötigtes Element einer Reform. Die Ampel-Regierung hatte gute Ansätze und Ideen hierfür. Eine private Altersvorsorge, wie in Schweden, wäre ein guter Ansatz. Allerdings muss der Staat darauf achten, dass die staatlichen Gelder zielgenau bei denen ankommen, die die Hilfe benötigen. Anders als in der Vergangenheit, wie etwa durch die Riester-Rente, sollten nicht primär die Versicherungen und die Besserverdiener profitieren, sondern Menschen mit geringen Einkommen.

Demnächst entscheidet das Bundesverfassungsgericht über den Solidarzuschlag. Wäre es nicht besser, diesen in einen Demografiezuschlag umzubauen?

Der Solidaritätszuschlag hätte schon längst abgeschafft werden sollen, denn es handelt sich um eine Zweckentfremdung. Neben einer großen Reform der Sozialsysteme ist eine grundlegende Steuerreform die zweite zentrale Aufgabe für die neue Bundesregierung. Es gibt kaum ein Land, das Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland. Mir geht es dabei weniger um Gerechtigkeit als um die Frage der Effizienz.

Das müssen Sie erklären.

Unser Steuersystem setzt riesige Fehlanreize. Es reduziert vor allem die Anreize für Arbeit bei Menschen mit mittleren und geringen Einkommen und fördert passive Vermögensbildung. Die neue Bundesregierung sollte die geringen und mittleren Einkommen deutlich entlasten und Fehlanreize, wie durch hohe Transferentzugsraten, abbauen und gleichzeitig große Vermögen stärker besteuern. Kurz: Sie sollte fast alle ihre Wahlversprechen kassieren, da die meisten davon auf die Entlastung von Spitzenverdienern und großen Vermögen ausgerichtet wurden. Ich hoffe, die neue Bundesregierung hat den Mut, mit alten Besitzständen und mächtigen Interessen zu brechen und die Chance für grundlegende Reformen zu nutzen.

Das Interview führte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.

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