EZB-Ratsmitglied Olli Rehn

„Wir müssen eine Schocktherapie vermeiden“

Vor der nächsten Zinssitzung nimmt die Debatte über den EZB-Kurs immer mehr Fahrt auf – an den Märkten und bei Ökonomen, aber auch unter den Euro-Notenbankern selbst. Im Interview spricht EZB-Ratsmitglied Olli Rehn über die aktuelle Lage und den weiteren Ausblick.

„Wir müssen eine Schocktherapie vermeiden“

Mark Schrörs.

Herr Rehn, ist die Gefahr einer Rezession im Euroraum gebannt?

Die Wirtschaftsdaten in den ersten Wochen des neuen Jahres waren besser als erwartet, und die Risiken beim Wachstum und der Inflation sind ausgeglichener. Das Wachstum in der Eurozone verlangsamt sich, und der Ausblick ist weiter durch die Energiekrise beeinträchtigt. Aber es scheint in der Tat, dass eine Rezession vermieden werden kann, ceteris paribus.

Die EU-Kommission hat unlängst ihre Wachstumsprognose für die Eurozone für dieses Jahr von zuvor 0,3% auf 0,9% angehoben. Wird die EZB im März nachziehen? Die EZB-Projektionen im Dezember hatten 0,5% vorausgesagt.

Das Wachstum wird vermutlich etwas stärker ausfallen als noch im Dezember erwartet. Ein Wert irgendwo bei rund 1,0% scheint realistisch. Das Wichtigste ist aber, dass wir im Wachstumsbereich geblieben sind. Wir erwarten zudem im Laufe dieses Jahres und im nächsten Jahr einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Und was bedeuten bessere Wachstumsaussichten für die Inflationsentwicklung? Bleibt damit die Inflation länger hoch und hartnäckiger als gedacht?

Mehr Wachstum bedeutet tendenziell mehr Inflation, wenn die Wirtschaft voll ausgelastet ist. Aber die Inflationsentwicklung hängt im Detail von sehr vielen Faktoren ab. Was die Inflation im Euroraum in den vergangenen zwei Jahren betrifft, da gab es vor allem einen Treiber und einen Anker. Der Inflationstreiber waren die sehr hohen Energiepreise. Der Anker waren die bis zuletzt relativ gemäßigten Lohnabschlüsse.

Und das dreht sich jetzt? Die Energiepreise sind gesunken, während die Lohnabschlüsse anziehen.

Der Rückgang der Energiepreise ist erfreulich. Aber da ist Vorsicht geboten: Erstens sind die Energiepreise sehr volatil; sie können also auch schnell wieder in die andere Richtung gehen. Zweitens gibt es eine gewisse Rigidität und Asymmetrie. Die Energiepreisinflation zieht sehr schnell an, aber es braucht länger, bis sie wieder zurückgeht. Jetzt ist aktuell die Lohnentwicklung fundamental für die Inflationsdynamik.

Und wie sehr besorgt Sie dann das zunehmende Lohnwachstum?

Das Lohnwachstum zieht an. Bislang geht es aber hauptsächlich darum, eine Kompensation für die vergangenen Einbußen bei der realen Kaufkraft zu erreichen, nicht um höhere Inflationserwartungen für die Zukunft. Ich finde es beruhigend, dass die Lohnabschlüsse in diesem Jahr höher ausfallen, dann aber im Jahr 2024 im Einklang mit den Inflationsprognosen der EZB zurückgehen.Das zeigt sich in Finnland wie in Deutschland, wenn man sich etwa den Tarifabschluss in der deutschen Metallindustrie anschaut. Ich sehe bislang keine tiefer gehende Lohn-Preis-Spirale.

Im öffentlichen Dienst in Deutschland lautet die Forderung jetzt aber schon auf 10,5% mehr Lohn. Ist das kein Alarmsignal?

Die Forderungen entsprechen in der Regel nicht dem Endergebnis. Wir müssen aber achtsam sein und die Lohnentwicklung sehr genau beobachten. Es ist entscheidend, dass die Löhne nur so stark anziehen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhalten und eine Lohn-Preis-Spirale vermieden wird. Sonst müssten wir notfalls noch stärker gegensteuern.

Sie sagen aber trotzdem alles in allem, dass sich wie beim Wachstum auch bei der Inflation die Perspektiven gegenüber Dezember verbessert haben?

Man kann sicher sagen, dass sich sowohl beim Wachstum als auch bei der Inflation die Situation verbessert hat und dass die Risiken rund um das Basisszenario ausgeglichener sind als im Dezember, wobei bei der Inflation weiter die Aufwärtsrisiken überwiegen. Die verbesserte Lage auf den Energiemärkten haben wir Glück und politischem Handeln zu verdanken. Glück, weil der Winter in Europa recht mild war. Zugleich hat politisches Handeln dafür gesorgt, dass etwa russisches Gas schnell durch andere Energieformen ersetzt wurde. Aber auch die Menschen haben ihren Anteil, weil sie Energie gespart haben. Das war wesentlich für die Überwindung der akuten Energiekrise.

Etwas mehr Wachstum, etwas weniger Inflation – das könnte sich dann auch so in den März-Projektionen der EZB niederschlagen. Was wären dann die Implikationen für die Geldpolitik? Müssten die Leitzinsen dann nicht so aggressiv erhöht werden wie im Dezember signalisiert?

Wir sind bei der Geldpolitik weiter auf Kurs und bleiben das auch. Die Gesamtinflation ist zuletzt zwar zurückgegangen, und beim zugrunde liegenden Preisdruck, einschließlich der Kerninflationsrate ohne Energie und Lebensmittel, gibt es eine gewisse Stabilisierung. Aber sowohl die Gesamt- als auch die Kernrate sind weiter übermäßig hoch. Wir müssen deshalb alles tun, was nötig ist, um die Inflationserwartungen weiter im Bereich unseres Inflationsziels zu verankern. Wir müssen jetzt die Zinsen weiter anheben und dann lange genug eine restriktive Haltung beibehalten, um die Finanzierungskonditionen zu verschärfen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ausreichend zu dämpfen.

Und das bedeutet konkret?

Wir haben für die Sitzung im März unsere klare Absicht bekundet, die Leitzinsen erneut um 50 Basispunkte anzuheben. Im März bekommen wir dann neue Projektionen und uns liegen mehr Daten vor. Dann werden wir analysieren, wie es danach weitergeht. Ich gehe nach aktuellem Stand davon aus, dass wir im Laufe des Sommers den Höhepunkt im aktuellen Zinszyklus erreichen werden.

Das heißt dann, die Zinserhöhungen gehen auch nach März erst einmal weiter? Einige Beobachter spekulieren, dass bereits dann Schluss sein könnte.

Bei einer so hohen Inflation scheinen weitere Zinserhöhungen über den März hinaus wahrscheinlich, logisch und angemessen. Wie gesagt, es ist wichtig, dass wir bei den Leitzinsen den restriktiven Bereich erreichen und dann einige Zeit auf dem Niveau bleiben.

Das aktuelle Zinsniveau ist also noch nicht restriktiv, es bremst die Wirtschaft also noch nicht?

Das ist eine berechtigte Frage. Die Antwort ist aber kompliziert. Der sogenannte neutrale Zins ist kein statisches Konzept, sondern ihm liegen viele Annahmen und Einschätzungen zugrunde. Geldpolitik ist da ebenso Kunst wie Wissenschaft. Ich würde sagen, wir sind kurz davor, den restriktiven Bereich zu erreichen.

Ist es mit Blick auf die Inflationserwartungen denkbar, mit den Zinserhöhungen aufzuhören, bevor auch die Kernrate ihren Höhepunkt überschritten hat und nachhaltig zurückgeht?

Es ist kaum vorstellbar, dass wir die Zinserhöhungen stoppen, solange die Kerninflationsrate weiter anzieht und derart hoch liegt. Ich gehe aber davon aus, dass auch die Kernrate im Verlauf des Jahres zurückgehen wird.

Machen Sie sich eigentlich mehr Sorgen wegen der Höhe der Inflation oder der Hartnäckigkeit?

Beides sind große Probleme. Ganz besonders gilt das aber für die Kombination. Eine hohe und hartnäckige Inflation ist Gift für die Wirtschaft. Deshalb müssen wir die Inflation mit starker Entschlossenheit bekämpfen.

Und reicht da eine Erhöhung des Einlagenzinses von aktuell 2,5% auf 3,25% oder 3,5%, wie es viele Ökonomen und Marktteilnehmer aktuell als Peak im Zinszyklus erwarten? Ihr Ratskollege Mario Centeno hat gesagt, im März könnte die EZB klarer sein mit Aussagen zum Zinshöhepunkt.

Die Unsicherheit über den neutralen Zins und über die Inflationsdynamik ist sehr groß. Das macht es sehr schwierig, im Voraus präzise Aussagen zu machen über das genaue Zinsniveau, das die Inflation mittelfristig wieder auf unser Ziel von 2,0% bringt. Wie gesagt, ich erwarte, dass auch die Kerninflation im Jahresverlauf zurückgeht. Wir müssen aber auch vorbereitet sein dafür, dass es Verzögerungen oder Enttäuschungen gibt. Deswegen brauchen wir im Kampf gegen die Inflation Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit.

Wie besorgt sind Sie vor dem Hintergrund denn über die Erwartungen an den Finanzmärkten? Viele Akteure spekulieren sogar auf baldige Zinssenkungen, womöglich noch in diesem Jahr. Das führt ja eher zu einer Lockerung der Finanzierungskonditionen.

Wir haben unsere Intention sehr klar kommuniziert, und daran sollte niemand zweifeln. Wir werden die Zinsen so lange erhöhen und dann auf einem hohen und restriktiven Niveau halten, bis wir einen klaren und nachhaltigen Rückgang der Inflation sehen. Wir werden bei den Zinsen nicht der Übertreibung willen übertreiben. Wir sollten aber auch nicht übereilt über Zinssenkungen diskutieren.

Sie würden also zustimmen, dass die Geschichte vor einer zu frühen Kehrtwende warnt?

Marktteilnehmer und Wirtschaftsakteure schätzen Konsistenz und Stabilität. Jetzt ist es unsere Aufgabe, Konsistenz und Hartnäckigkeit im Kampf gegen die Inflation zu zeigen.

Und das heißt auch, im Zweifelsfall lieber zu viel zu machen und die Zinsen zu stark anzuheben, als zu wenig zu tun und die Geldpolitik zu locker zu gestalten?

Wir dürfen auf keinen Fall zu früh nachlassen. Das ist eine der zentralen Lehren der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Ende der 1970er Jahre, nach der Islamischen Revolution im Iran und dem zweiten Ölschock, dachte die US-Notenbank Fed zunächst, dass sie in der Lage sei, die Inflation zu kontrollieren und einzudämmen. Aber es gab eine zweite Inflationswelle, weil die Inflationserwartungen nicht mehr verankert waren. Das Ergebnis war eine galoppierende Inflation. Darauf reagierte die Fed unter Paul Volcker mit einer Schocktherapie – mit Zinssätzen bei 20%, die zu Massenarbeitslosigkeit und niedrigem Wachstum führten. Die Zeiten haben sich verändert, aber wir als EZB-Rat müssen eine solche Schocktherapie vermeiden und stattdessen präventiv agieren. Wir müssen unsere Zinsen vorbeugend und kontinuierlich erhöhen, um die Inflationserwartungen unter Kontrolle zu halten und eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Das mag jetzt etwas niedrigeres Wachstum bedeuten. Aber das ist die bessere Alternative zu einer späteren Schocktherapie samt sehr hoher Arbeitslosigkeit.

Im März startet auch der Abbau der Anleihebestände. Kritiker bemängeln, das Tempo mit 15 Mrd. Euro Bilanzreduzierung pro Monat sei gering und untergrabe den Kampf gegen die Inflation.

Unser Hauptinstrument im Kampf gegen die Inflation sind die Leitzinsen. Und wir sehen, dass die Geldpolitik wirkt. Die Inflationserwartungen sind gesunken, seit wir mit den Zinserhöhungen begonnen haben. Was nun den Bilanzabbau angeht: Wir haben entschieden, vorsichtig zu starten. Es geht auch darum, die Märkte zu testen.

Und ab Juli steigt das Tempo?

Da ist es für ein Urteil noch zu früh. Und wir müssen das auch nicht jetzt schon entscheiden. Aber natürlich ist auch klar: Der Anleihebestand hat Effekte auf die Langfristzinsen.

Wie sehr spielt bei den Überlegungen die Sorge vor den Folgen für die Euro-Staatshaushalte hinein?

Was Sie da sagen, klingt nach fiskalischer Dominanz. Das akzeptieren wir nicht und praktizieren wir nicht. Unser primäres Mandat ist Preisstabilität, und daran richten wir unsere Politik aus – und an nichts anderem. Sollte es Probleme bei der geldpolitischen Transmission in einzelnen Euro-Staaten geben, gibt es Instrumente wie unser neues TPI. Im Moment sehe ich aber keine Turbulenzen bei den Unternehmens- oder Staatsanleihen. Und wenn die Mitgliedstaaten eine verantwortliche Fiskal- und Wirtschaftspolitik betreiben, sollte es auch keine Turbulenzen geben.

Wären der Bilanzabbau und die Reduzierung der Anleihebestände leichter, wenn es auf Euro-Ebene mehr gemeinsame Fiskalpolitik und Töpfe gäbe? Derzeit wird über einen EU-Souveränitätsfonds als Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA diskutiert.

Da geht es im Grunde um mehr, nämlich um die Frage, wie die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion optimalerweise aussehen sollte. Kurzfristig ist da jetzt die rasche Reform der EU-Fiskalregeln entscheidend. Das aktuelle Regelwerk, das ich als EU-Kommissar noch mitentwickelt habe, ist sehr komplex. Ich wäre dafür, die Regeln in Richtung eines Schuldenankers und einer Ausgabenregel zu reformieren und zu vereinfachen. Und der EU-Rat sollte das finale Wort haben, um Gruppendruck aufzubauen.

Die Reform ist aber hoch umstritten, und es gibt kaum Fortschritte.

Ich würde den Finanzministern dringend raten, die Arbeit an der Reform zu beschleunigen. Es wäre wichtig, in der ersten Jahreshälfte eine Einigung zu erzielen. Denn dann werden die Budgetpläne für 2024 gemacht, und dann brauchen die Finanzminister Rückendeckung durch Regeln. Wenn es keine Fiskalregeln gibt, sind die Ausgaben und die Defizite höher. Das Beste wären reformierte Regeln. Wenn das nicht geht, sollte zu den alten Regeln zurückgekehrt werden und diese klug angewendet werden.

Da klingt auch die Sorge durch, dass eine zu ausgabenfreudige Fiskalpolitik das Inflationsproblem noch verschärft, richtig?

Natürlich ist die Fiskalpolitik für die Geldpolitik von Bedeutung. In der Corona-Pandemie haben wir Hand in Hand zusammengearbeitet und mit schnellen und entschlossenen Hilfen die Wirtschaft unterstützt. Jetzt braucht es die gleiche Zusammenarbeit im Kampf gegen die Inflation. Wenn die Geldpolitik die Finanzierungskonditionen verschärft, ist es zentral, dass die Fiskalpolitik nicht zugleich für eine Lockerung sorgt und die Wirtschaft stimuliert – zumal wenn diese recht stabil wächst.

Ist die Fiskalpolitik im Euroraum aktuell schon zu expansiv?

In der Pandemie und zu Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine waren die kräftigen fiskalischen Hilfen absolut richtig und nötig. Jetzt hat sich die Wirtschaft aber erholt, und sie wächst relativ solide. Da wäre es besser, die fiskalpolitische Haltung frühzeitig wieder anzupassen. Ich sehe durchaus den Bedarf für große Investitionen in die grüne Transformation oder die Sicherheit. Aber die Ausgaben sind auf breiter Front gestiegen, und das hilft nicht, für tragfähige Finanzen zu sorgen oder die Inflation einzudämmen.

Und wie groß ist Ihre Sorge, dass Europas Antwort auf das US-Anti-Inflationsgesetz dieses Problem noch verschärft? Wie gesagt, da geht es auch um neue Geldtöpfe.

Das Allerwichtigste ist jetzt, dass wir als Europäer am freien Handel und dem einheitlichen Binnenmarkt festhalten. Zugleich braucht es eine stärker zielorientierte Industriepolitik. Im Ringen um strategische Autonomie muss es aber immer um eine offene strategische Autonomie gehen, nicht um Abschottung und Protektionismus. Was neue Gelder betrifft: Wir haben die Aufbau- und Resilienzfazilität. Die habe ich immer eher verstanden als eine Art Investmentfonds, der den strukturellen Umbau des Industriestandorts EU unterstützt. Den gilt es weiter zu implementieren und zu nutzen. Das ist wichtiger als neue Maßnahmen.

Das Interview führte

BZ+
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