„Wir müssen weniger konsumieren“
Anna Steiner.
Herr Professor Fratzscher, die Inflation ist in Deutschland zuletzt auf 7,9% gestiegen. Was erwarten Sie für die kommenden Monate?
Die Preise werden sicher noch weiter steigen, weil die höheren Energiepreise noch nicht komplett an Unternehmen und Verbraucher weitergegeben wurden. Es kann gut sein, dass wir in den kommenden Monaten Inflationsraten von mehr als 10% haben werden. Die Frage ist, ob die Inflation im Laufe des Jahres 2023 schnell fallen wird. Meine Hoffnung ist, dass – wenn jetzt die EU-Energieminister das Thema Gaspreise über eine Deckelung in den Griff bekommen – wir durchaus auch einen Rückgang der Inflation im kommenden Jahr sehen werden. Aber die Preise werden sicher hoch bleiben.
Der Arbeitsmarkt zeigt sich von der Rezessionsgefahr noch recht unbeeindruckt. Bleibt das so?
Kurzfristig, über die nächsten 18 Monate, denke ich, ist das eine der wenigen guten Nachrichten, denn es gibt fast zwei Millionen offene Jobs. Viele Unternehmen suchen händeringend Personal. Es kann Verschiebungen geben, dass einige Unternehmen Menschen nicht mehr einstellen können oder dass einzelne Unternehmen pleitegehen und sich die Beschäftigten dann etwas Neues suchen müssen. Die gesamte Arbeitsmarktentwicklung sollte aber recht positiv sein. Selbst wenn die Arbeitslosenquote steigt, gehen wir nicht davon aus, dass die Anzahl der Beschäftigten zurückgeht. Es kommen vor allem zusätzlich Menschen in den Arbeitsmarkt wie beispielsweise Geflüchtete, die nicht so schnell Beschäftigung haben werden. Aber der Arbeitsmarktausblick ist im Großen und Ganzen ein wichtiger Lichtblick.
Zuletzt war von einer Entkopplung von Konjunktur und Arbeitsmarkt die Rede.
Das ist erklärbar durch den großen Arbeitskräftemangel und dadurch, dass es gesamtwirtschaftlich keine sinkende Beschäftigung geben wird. Es wird lediglich eine Verlagerung geben. Die Beschäftigungssituation ist gut. Bei den Löhnen ist das eine ganz andere Situation, da sieht es sehr mau aus.
Die Gewerkschaften fordern zwischen 6 und 8% mehr Lohn. Sind diese Forderungen gerechtfertigt?
Man muss immer sehen, dass Gewerkschaften mit Forderungen in die Verhandlungen gehen, die sich aber nicht komplett erfüllen. Über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben die Gewerkschaften ungefähr 60% von dem durchsetzen können, was sie am Anfang haben wollten. Das wäre aktuell bei der IG Metall etwa eine Lohnsteigerung von 4,8%. Das klingt natürlich viel. Aber in der Regel gilt das ja auch für zwei Jahre. Wir rechnen dieses Jahr mit fast 10% Inflation, und auch nächstes Jahr wird sie hoch bleiben. Damit steigen die Löhne also immer noch sehr viel geringer als die Inflation. Man muss sich aber immer anschauen, welche Unternehmen betroffen sind und ob sie das stemmen können.
Wo ist das denn der Fall?
Einige Branchen können sich das leisten. Die Energiewirtschaft wäre ein Beispiel. Bei den derzeit erzielten Übergewinnen könnte sie mit Sicherheit selbst 10% Lohnsteigerung zahlen. In anderen Branchen ist das nicht so leicht. Momentan ist die Industrie in einer schwierigen Lage, auch wegen der Lieferengpässe. Im kommenden Jahr dürfte es aber vor allem der Dienstleistungssektor sein, der viel härter getroffen wird. Hier muss man sehr vorsichtig abwägen. Wenn die IG Metall die üblichen 60% bekommt, sind es 4,8% Lohnerhöhung. Aber real gesehen sinkt die Kaufkraft der Löhne um rund 5%.
Die Arbeitgeber rufen die Gewerkschaften zur Mäßigung auf. Wer hat recht?
Beide haben ein total legitimes Anliegen, und es lassen sich nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren. Einige – auch außerhalb der Energiebranche – fahren hohe Erträge ein und können sehr wohl bessere Löhne zahlen. Aber es gibt auch viele Unternehmen, die gar keine Lohnerhöhung zahlen können. In dem Fall ist es dann klug, auf Lohnerhöhungen zu verzichten, damit das Unternehmen überleben kann. Wichtig ist, sich differenziert jede Branche anzuschauen und klug zu verhandeln. Es sollte einen guten Ausgleich geben, so dass nicht nur die Beschäftigten die Last tragen, sondern auch die Unternehmen.
Welche Rolle spielt die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro?
Einen großen negativen Beschäftigungseffekt wird es nicht geben. Auch die Bundesagentur für Arbeit macht sich da keine Sorgen, und das teile ich. Die Erhöhung auf 12 Euro ist natürlich erheblich. Die Erfahrung mit der Einführung des Mindestlohns 2015 zeigt aber, dass die Beschäftigungseffekte sehr gering sind. Unternehmen, die diese Mindestlöhne nicht bezahlen können, verlieren zwar Beschäftigte. Diese wechseln dann aber häufig zu anderen, effizienteren Unternehmen, die höhere Löhne zahlen können. So soll es ja auch sein in einer Marktwirtschaft, dass es einen Wettbewerb auch gerade um Arbeitskräfte gibt.
Was bedeutet der höhere Mindestlohn für die Beschäftigten?
Aus einer sozialen Perspektive ist es natürlich extrem gut, weil sich die Lohnkurve direkt und indirekt nach oben verschiebt und wir weit über zehn Millionen Menschen haben werden, die höhere Löhne erhalten und sich damit auch in Zeiten dieser Inflation besser absichern können. Und es ist auch aus der wirtschaftlichen Perspektive gut, weil höhere Löhne die Kaufkraft stärken und damit die Nachfrage anschieben. Dadurch könnte die Rezession ein wenig abgemildert werden. Eine gute Lohnentwicklung ist wichtig, damit die private Nachfrage nicht zu stark einbricht. Das liegt auch im Interesse der gesamten Wirtschaft.
Einige Ökonomen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale. Sie nicht.
Die Lohnforderungen in diesem Jahr liegen im Durchschnitt unterhalb der Inflation. Die realen Löhne fallen also deutlich. Und man muss berücksichtigen, dass weniger als die Hälfte aller Jobs über Tarifverträge abgedeckt sind. Beschäftigte ohne Tarifbindung können lediglich kündigen, andere Druckmittel haben sie nicht. Das dritte Argument ist, dass auch die Gewerkschaften ein starkes Interesse haben, den Bogen nicht zu überspannen, damit keine Unternehmen pleitegehen und Arbeitslosigkeit entsteht. Ich finde, die Gewerkschaften verhalten sich derzeit in den meisten Fällen verantwortungsvoll. Bei der Lufthansa stelle ich mal ein Fragezeichen dahinter.
Was bedeuten sinkende Reallöhne für das deutsche Wirtschaftswachstum?
Eine Rezession ist unvermeidbar. Die Wirtschaft wird wahrscheinlich schon im dritten Quartal schrumpfen. Das wird sich wohl bis ins erste Quartal 2023 fortsetzen – mindestens. Die meisten Prognosen deuten auf ein Schrumpfen für das gesamte Jahr 2023 hin und erwarten nur eine sehr schleppende Erholung. Die aktuelle Konsumschwäche vertieft die Rezession und macht die Erholung schwieriger. Unternehmen investieren ja nur, wenn sie merken, dass es eine Nachfrage gibt. Die bricht aber gerade weg, weil wir eine zuhöchst unsoziale Inflation haben: Menschen mit geringen Einkommen erfahren individuell viel mehr als die durchschnittliche Inflation, weil sie einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für Energie und Nahrungsmittel ausgeben müssen, also für die Dinge, die jetzt besonders teuer geworden sind. Unsere Studie am DIW hat gezeigt, dass Menschen mit geringen Einkommen eine drei- bis viermal höhere Inflation erfahren als Menschen mit hohen Einkommen. Das heißt, ihr Konsum bricht ein. Diese unsoziale Inflation ist nicht nur deshalb so schädlich, weil es die verletzlichsten Menschen am härtesten trifft, sondern weil es auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage besonders stark reduziert.
Wie bewerten Sie die bislang geschnürten Entlastungspakete?
Die Politik lernt. Das ist die erste Botschaft. Das dritte Entlastungspaket ist besser als das zweite. Man hat zumindest manche Fehler – Beispiel Tankrabatt – nicht wiederholt. Das dritte Paket hat einige gute Elemente, gar keine Frage. Zum Beispiel die Erhöhung des Bürgergelds, die Ausweitung von Wohngeld von knapp 700000 auf zwei Millionen Haushalte. Aber meiner Ansicht nach reicht es noch nicht aus. Die Entlastungen sind noch nicht ausreichend zielgenau auf Menschen mit geringen Einkommen ausgerichtet. Da muss man nachlegen.
Wo genau?
Das wirklich große ungelöste Problem bleiben die Strom- und Gaspreise. Das dritte Entlastungspaket enthält lediglich Versprechen, was aber nicht ausreichend ist. Es muss dringend nachgebessert werden. Die Menschen müssen jetzt wissen, was sie für Strom und Heizen bezahlen werden, und nicht erst in fünf Monaten. Da muss jetzt eine Lösung her, die mehr Sicherheit gibt. Die Unternehmen haben ja dasselbe Problem – vor allem kleine und mittelständische Betriebe.
Wie sähe denn Ihre Lösung aus?
Erstens braucht es eine kluge Deckelung von Strom- und Gaspreisen, die trotzdem starke Anreize setzt für Einsparungen. Wir müssen weniger konsumieren. Das wird den Staat auch einiges an Geld kosten. Zweitens braucht es noch mehr soziale Hilfe, vor allem für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Das könnte beispielsweise durch direkte Pauschalzahlungen passieren. Das dritte Element, das bislang völlig ignoriert wird, ist, die Transformation Richtung Klimaneutralität voranzutreiben. Wenn wir aus dieser Spirale der hohen Preise herauswollen, müssen wir viel schneller den Ausbau erneuerbarer Energien und Klimaschutzmaßnahmen vorantreiben, die energetische Gebäudesanierung und Einsparungen möglich machen. Diese langfristige Perspektive fehlt noch komplett.
Das Interview führte