Zwischen Boom und Blase
Von Stefan Reccius, Frankfurt
Wenn das europäische Statistikamt Eurostat am Donnerstag Zahlen zu Immobilienpreisen in Euroland im zweiten Quartal veröffentlicht, ist mit neuer Nahrung für eine altbekannte Debatte zu rechnen: Ist das noch ein Boom oder längst eine Blase? Die Vorgaben aus Deutschland aus der abgelaufenen Woche weisen jedenfalls in eine eindeutige Richtung: Hierzulande verteuerten sich Wohnimmobilien laut Statistischem Bundesamt zwischen April und Juni auf Sicht von zwölf Monaten um 10,9% – noch einmal 2 Prozentpunkte mehr als im ersten Quartal. Und bereits da hatte Eurostat mit Blick auf die gesamte Eurozone die höchste Zuwachsrate seit anderthalb Jahrzehnten ermittelt: 5,8%. Volkswirte von Oxford Economics sehen den Häusermarkt der Eurozone auf Kurs zu einem 30-Jahres-Hoch. Das rückt die Europäische Zentralbank (EZB) gleich doppelt in den Fokus: als Wächterin über die Finanzstabilität – und als Hüterin der Preisstabilität.
Bislang fristen die Wohnkosten bei der Inflationsberechnung ein Schattendasein. Nur Mieten fließen ein, nicht aber selbst genutztes Wohneigentum – anders als in den USA. Die EZB will das nun ändern, so viel ist seit Abschluss der groß angelegten Strategieüberprüfung klar. Technisch für die Anpassung zuständig ist Eurostat. Es ist ein kompliziertes, langwieriges Prozedere. EZB-Chefin Christine Lagarde hat deshalb in einem Brief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zur Eile gemahnt, wie die Französin im Juli verriet. Die EZB erwägt eine Übergangslösung.
Klar ist: Mit jeder neuen Zuspitzung am Immobilienmarkt wird der Druck auf die EZB zunehmen. Das gilt vor allem für Deutschland. Hier ist nicht nur die Kritik an der sehr lockeren Geldpolitik stets besonders groß gewesen, sondern auch das Plus am Häusermarkt. Unter den großen Euro-Staaten verzeichnet Deutschland in diesem und den kommenden Jahren voraussichtlich nach den Niederlanden die höchsten Zuwachsraten (siehe Grafik). Beobachter erwarten, dass die Preissteigerungen am Häusermarkt bis Jahresende weiter zunehmen, in Deutschland wie in der gesamten Eurozone. Frühestens danach ist mit einer allmählichen Trendwende zu rechnen.
Parallelen zur Finanzkrise
Je häufiger die Frage gestellt wird, ob der Euroraum auf dem Weg zur Immobilienblase sei, umso mehr kommen Parallelen zu Zeiten der Weltfinanzkrise zur Sprache. So verweist Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen auf den Umstand, dass die Häuserpreise seit 2015 wieder stärker zugelegt haben als die Nettokaltmieten. Gemäß dieser Relation sind Wohnimmobilien inzwischen höher bewertet „als 2008, also vor dem Platzen der Immobilienblasen in einigen Ländern“, so Solveen. Die prozentualen Preiszuwächse übersteigen ohnehin Werte aus jener Zeit. Das gilt auch für die Nachfrage nach Immobilienkrediten, die laut monatlichen Daten der EZB ungebrochen ist. Demnach haben Banken im August 5,8% mehr Immobilienkredite an Privathaushalte ausgereicht als vor zwölf Monaten – auch das Werte, wie sie seit rund 13 Jahren nicht zu registrieren waren. Preise und Kreditnachfrage bewegen sich nahezu im Gleichklang. Das liegt an einer Kombination aus Anlagenotstand in Nullzinszeiten und dem von der Pandemie getriebenen Drang ins Eigenheim bei gleichzeitig zu geringer Bautätigkeit. Außerdem hat die Relation von Hauspreisen zu Haushaltseinkommen laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in den Industrieländern wieder in etwa das Niveau des Vorkrisenjahres 2007 erreicht.
Andererseits gibt es bemerkenswerte Unterschiede zur damaligen Zeit. Insbesondere sei das Zinsniveau deutlich niedriger, was höhere Bewertungen rechtfertige, so Ricardo Amaro, Volkswirt von Capital Economics. Im Umkehrschluss bedeutet das freilich: Die Immobilienmärkte werden immer anfälliger für die Zinswende. Außerdem habe sich die Verschuldung privater Haushalte im Durchschnitt der OECD-Staaten, zu denen sämtliche größere Länder der Eurozone zählen, im Verhältnis zu den Einkommen der Haushalte stabil entwickelt, und zwar „auf deutlich geringerem Niveau als im Vorfeld der Finanzkrise“, so Amaro.
Für die EZB beziehungsweise die Statistiker von Eurostat wirft die geplante stärkere Berücksichtigung der Wohnkosten bei den Verbraucherpreisen praktische Probleme auf: Sie stehen vor der Herausforderung, die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum von reinen Vermögenseffekten abzugrenzen. Ökonomen des Eurosystems haben simuliert, ob sich die Inflationsrate bei Berücksichtigung selbst genutzten Wohneigentums anders entwickelt hätte. Das Ergebnis: Während der Einfluss „über die gesamten letzten beiden Jahrzehnte“ im Durchschnitt gering gewesen wäre, hätte eine Berücksichtigung selbst genutzten Wohneigentums „in jüngsten Jahren zu anhaltend höherer Inflation geführt“. Die Ökonomen von EZB und Co. beziffern den Effekt in den Jahren 2018 bis 2020 auf 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte.