EU-Taxonomie

Beschädigter Goldstandard

Mit der geplanten grünen Klassifizierung von Atomkraft und Erdgas zielt die EU-Kommission auf die Versorgungssicherheit ab, beschädigt aber nur die Glaubwürdigkeit der Taxonomie, die vor einem ersten wirklichen Realitätscheck steht.

Beschädigter Goldstandard

Dass die EU-Kommission den Mitgliedstaaten mehr Zeit gegeben hat, um auf den umstrittenen Vorschlag zur grünen Klassifizierung von Atomkraft und Erdgas zu reagieren, sollte niemand dahingehend interpretieren, dass sich die Behörde Kritik zu Herzen genommen hätte und die Stellungnahmen noch eine wirkliche Bedeutung hätten. Nein, die Entscheidung zum Umgang mit Atom und Gas in der Taxonomie ist längst gefallen, und ein Veto ist weder im Rat noch im EU-Parlament absehbar – egal wie groß die Aufregung in Deutschland, Österreich oder Luxemburg ist.

Dennoch lohnt es sich, zur Bewertung noch einmal einen genaueren Blick in die Taxonomie-Verordnung zu werfen: Die Kommission kann argumentieren, dass das Ersetzen von Kohle durch Gas oder Atomkraft einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leistet. Ob dieser auch „wesentlich“ ist, wie gefordert, bleibt Interpretationssache. Auch ist es korrekt, dass in der Taxonomie auch Investitionen in „Übergangsaktivitäten“ einen grünen Stempel erhalten können. Das gilt aber nur, wenn es keine technologisch und wirtschaftlich machbaren Alternativen gibt. Hier fällt die Argumentation mit Blick auf Wind- oder Solarstrom schon schwerer.

Und schließlich darf eine Tätigkeit keinen erheblichen Schaden im Hinblick auf alle Umweltziele der Taxonomie verursachen (“No significant harm“-Prinzip). Dies geht weit über die Klimaziele hinaus. Und spätestens hier wäre die Atomkraft raus. Es beginnt beim Uranabbau, betrifft die Sicherheit beim Kraftwerksbetrieb und endet mit der ungelösten Atommüllproblematik – die auch die Kommission nicht wegwischen kann. Seriös kann diese Wertschöpfungskette niemand als „nachhaltig für die Umwelt“ einstufen. Es bleiben somit viele Zweifel an der Rechtmäßigkeit des geplanten delegierten Rechtsaktes, so dass eine Klage aktuell als erfolgreichster Weg erscheint, die grüne Adelung von Atom und Gas noch zu stoppen.

Die Brüsseler Behörde sieht ein Nachhaltigkeitssiegel für diese Energiearten dagegen als „pragmatisch und realistisch“ an. Das liegt daran, dass die verantwortlichen EU-Beamten (und auch andere Befürworter) die Taxonomie mit dem politischen Ziel der Versorgungssicherheit vermengen. Beide haben aber erst einmal nichts miteinander zu tun. Dieses Vorgehen ist problematisch, da es das Klassifizierungssystem für nachhaltige Investitionen noch in der Aufbauphase beschädigt. Die Taxonomie war eigentlich als globaler Goldstandard gedacht. Sollten aber politische Opportunitäten und Kompromisse Einzug erhalten, gefährdet dies Glaubwürdigkeit und Integrität des Systems.

Natürlich ist auch die Versorgungssicherheit ein wichtiges Ziel beim Umbau der Energieerzeugung, der auf dem Weg zur Klimaneutralität in allen EU-Ländern nötig wird. Beispiel Deutschland: Der Ausstieg aus Kernkraft und Kohle macht bis 2030 den Bau neuer Gaskraftwerke von 20 bis 30 Gigawatt nötig. Nicht umsonst hat ja gerade die Bundesregierung in Brüssel auf eine Aufnahme von Erdgas in die Taxonomie gedrungen, weil es ansonsten mit der Finanzierung dieser bis zu 30 Mrd. Euro teuren Investitionen schwierig wird.

Die Bindungswirkung der Taxonomie in der Finanzwirtschaft ist nämlich schon heute ausgeprägter, als viele glauben. Es wird immer schwieriger, von Banken Kredite für Investitionen zu erhalten, die kein grünes Siegel tragen – selbst wenn sie von der Politik an anderer Stelle als prioritär eingestuft werden. Dies haben auch schon andere Branchen schmerzhaft erfahren. Die Frage ist nur, ob dieses Problem mit einer Verwässerung der Taxonomie zu lösen ist oder ob nicht andere finanzielle Anreize gesetzt werden sollten, etwa über neue Vergütungssysteme im Strommarktdesign.

Die Taxonomie steht in jedem Fall vor einem ersten Realitätscheck. Es geht um viel Geld und die Lastenverteilung der Energiewende. Es geht um die Gefahr, falsche Anreize zu setzen, da Investitionen in Atom und Erdgas auch den dringend benötigten Ausbau der Erneuerbaren ausbremsen können. Der Gas-Teil der Kommissionsvorschläge könnte dabei mit etwas gutem Willen durchaus noch als „Übergangsaktivität“ des Klassifizierungssystems eingestuft werden, weil die Kriterien von der EU-Kommission sehr strikt und die Fristen knapp gesetzt wurden. Ein Wechsel der neuen Kraftwerke von Erdgas auf grünen Wasserstoff ist zudem von Anfang an Teil des Konzepts. Klar ist aber auch, dass es den grünen Stempel für Gas nur zusammen mit der Atomkraft gibt. Das sind die politischen Realitäten in Europa. Und daran wird auch die neue Bundesregierung nichts ändern können.(Börsen-Zeitung, 13.01.2022)

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