Bewertungen erreichen bedenkliche Niveaus
Von Christopher Kalbhenn,Frankfurt
Ein beginnender, von massiven fiskalischen und geldpolitischen Impulsen und der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens getriebener Boom, niedrige Zinsen, durch die es kaum Alternativen zu Dividendentiteln gibt: Es sind in der Tat starke Faktoren, die die beeindruckende Rekordjagd an den Aktienmärkten treiben. Sie machen sie auch nachvollziehbar bzw. lassen sie als absolut gerechtfertigt erscheinen. Die Hausse hat aber auch ihre Schattenseiten. Nicht nur die Aktienindizes betreten Neuland, so der Dax und der S&P500, die nun erstmals Höhen von mehr als 15000 bzw. 4000 Punkten erreicht haben, sondern auch die Bewertungen. Die Bewertungen sind extrem hoch, in mancherlei Hinsicht rekordhoch.
Relation zum BIP auf Rekord
Verschiedene Indikatoren zeigen das. So befindet sich der nach der Investorenlegende benannte Warren-Buffett-Indikator, das heißt das Verhältnis von Marktkapitalisierung zu BIP in den USA, auf einem noch nie dagewesenen Niveau von mehr als 230%. Damit liegt er deutlich über seiner langfristigen Trendlinie von 120% und auch dem kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase erreichten Stand von 159%. Auch im weltweiten Maßstab hat, wie Goldman Sachs kürzlich in einer Studie aufgezeigt hat, das Verhältnis von Marktkapitalisierung zu BIP Rekordhöhe erreicht.
Beunruhigend auch der Eindruck, den das Shiller-KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) abgibt. Es basiert auf den inflationsbereinigten Gewinnen der jeweils zurückliegenden zehn Jahren, ein Zeitraum, der ein zyklisch bereinigtes Bild bietet. Mit derzeit rund 37 bewegt es sich auf den bisherigen Rekord der Dotcom-Blase von rund 44 zu und liegt deutlich über dem Hoch von rund 30, das vor dem großen Crash von 1929 erreicht wurde. Weniger bekannt als das von Robert Shiller kreierte KGV ist dasjenige von Crestmont Research. Es ist ein gleitendes, auf den jeweils vier zurückliegenden Quartalen basierendes KGV und verfügt wie das Shiller-KGV über eine bis 1871 zurückliegende Historie. Nach diesem Indikator hat die Bewertung des US-Aktienmarktes ein Rekordniveau von rund 39 erreicht, das sich mit einem Hoch vor dem Dotcom-Crash von 26,4 vergleicht.
Aus diesen Indikationen auf einen aufgrund hoffnungsloser Überwertung unvermeidbar in nicht allzu ferner Zukunft folgenden Crash zu schließen wäre jedoch zu einfach. Es gibt eine Reihe von Gründen, sie mit Vorbehalt zu betrachten. So reflektieren weder die BIP-Betrachtung noch die genannten KGVs das aktuell einzigartige geldpolitische Umfeld, d.h. die im Vergleich zu früheren, vor großen Crashs erreichten Hochs deutlich niedrigeren Zinsen und die derzeitige Liquiditätsflut. Letztere schaffen aber eben Spielräume für höhere Aktienbewertungen. Durch die weit zurückreichende Datenhistorie gehen zudem Phasen in die Durchschnitte bzw. Trendlinien ein, die mit heutigen Zuständen kaum zu vergleichen sind. Selbst der Vergleich mit der nur rund 20 Jahre zurückliegenden Dotcom-Blase hinkt trotz der Tatsache, dass auch die aktuelle Hausse vor allem vom Tech-Sektor getrieben wird. Die Unternehmen des Sektors sind heute wesentlich besser aufgestellt und profitabler als vor 20 Jahren.
„Irrational überbewertet“
Crestmont Research behauptet allerdings auch nicht, ein alltagstaugliches Timing-Instrument zur Verfügung zu stellen, sondern hat vielmehr den Anspruch, Anhaltspunkte zu langfristigen Markttrends und erwartbaren Erträgen zu geben. Sie erklärt zwar, dass sich die Bewertung des Aktienmarkts signifikant über dem durch niedrige Inflation und Zinsen gerechtfertigten Niveau befindet, schränkt aber ein: „Obwohl der Markt ‚irrational überbewertet‘ erscheint, könnte es Faktoren geben, die eine solche hohe Bewertung und einen damit verbundenen niedrigen erwarteten Ertrag rechtfertigen.“ Crestmont prognostiziert keinen Crash, sondern erklärt, dass der Aktienmarkt für substanziell unterdurchschnittliche langfristige Erträge positioniert sei. Auch Robert Shiller, dessen Warnungen während der Dotcom-Blase und vor der großen Finanzkrise sich bewahrheiteten, hält sich mit unmittelbaren Crash-Warnungen zurück. Angesichts niedriger und voraussichtlich niedrig bleibender Zinsen würden Aktien weiterhin attraktiv aussehen, vor allem im Vergleich zu Anleihen.
Die KGVs von Shiller und Crestmont haben überdies den Nachteil, dass sie rückwärtsgewandt sind. Am Aktienmarkt wird die Zukunft gehandelt, und es steht nach dem von der Coronakrise ausgelösten Einbruch eine kräftige Erholung der Unternehmensgewinne an. Allerdings zeigt sich auch auf Basis der Konsensprognosen eine recht hohe Bewertung. Laut kürzlich von der Commerzbank zusammengestellten Daten liegen die KGVs des Dax, des EuroStoxx50 und des S&P500 auf Basis der gleitenden Konsensprognosen für die kommenden zwölf Monate 20%, 35% und 40% über ihren jeweiligen Zehnjahresdurchschnitten.
Gewinnanstiege eingepreist
Hinzu kommt, dass diesen KGVs sehr hohe Erwartungen an das Gewinnwachstum zugrunde liegen. Sowohl für den Dax als auch für den S&P500 werden für das laufende Jahr rekordhohe aggregierte Gewinne je Aktie erwartet, und für 2022 wird mit einem weiteren deutlichen Anstieg gerechnet. Im Falle des Dax geht der Konsens in diesem Jahr von einem Anstieg des Gewinns je Aktie um rund 27% auf 915 Punkte aus, gefolgt von einem Wachstum um rund 15% auf 1051 Zähler im kommenden Jahr. Unabhängig davon, ob die Experten recht haben, die glauben, dass die Konsenserwartungen ein Stück weit überzogen sind, oder diejenigen, die davon ausgehen, dass das Ergebniswachstum angesichts des erwarteten kräftigen Aufschwungs vom Konsens noch ein wenig unterschätzt wird, steht somit fest, dass der starke Gewinnanstieg zu einem großen Teil bereits in den Kursen vorweggenommen ist. Umso spannender ist vor diesem Hintergrund die startende Quartalsberichtssaison. Enttäuschen die Zahlen und die Ausblicke der Unternehmen, würden die optimistischen Konsensprognosen in Frage gestellt.
Erhöhte Anfälligkeit
Das ist nicht das einzige Risiko für die hoch bewerteten Aktienmärkte. Deutlich anziehende Inflationsraten und Anleihezinsen als Folge des Konjunkturaufschwungs würden ebenso belasten wie Sorgen über ab dem kommenden Jahr nachlassende geldpolitische und fiskalische Impulse. Ob diese und andere potenzielle Risiken relativ zeitnah zu Rückschlägen führen werden, kann zwar niemand prognostizieren. Die hohen Bewertungen machen die Aktienmärkte aber anfälliger und sind daher zumindest als Warnsignale zu werten.