Das Ende des Tandems
Europäische Union
Das Ende des Tandems
Viel wird darüber diskutiert, ob Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union darstelle. Schließlich ergreift Orbán fast jede Gelegenheit, um seine europäischen Partner zu verwirren oder vor den Kopf zu stoßen – indem er Hilfen für die Ukraine zeitweise blockiert, Rechtsaußen-Koalitionen im EU-Parlament organisiert und in Moskau oder Peking herumirrlichtert. Aber: Solange er im Kreise der 27 mit seinen politischen Störfeuern isoliert agiert, ist das Risiko überschaubar, dass er den europäischen Motor ins Stottern bringt.
Trotzdem ist die Gefahr, dass die EU gerade an Handlungsfähigkeit einbüßt, selten so groß wie momentan gewesen. Das liegt weniger an Ungarn, vielmehr an den Gründungsländern. Zur Erinnerung: 1958 waren es sechs Länder, die sich zu dem zusammenschlossen, was mittlerweile EU heißt. In zweien davon, nämlich in Luxemburg und Deutschland, dominieren auch heute noch politische Kräfte, die ein weiteres Zusammenwachsen Europas befürworten. In den vier anderen hingegen hat die Stimmung gedreht – hier haben zuletzt Parteien gepunktet, die der europäischen Integration mindestens skeptisch, wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen. In den Niederlanden ist die Partei des Rechtsauslegers Geert Wilders, der wiederholt einem Nexit das Wort geredet hat, zur stärksten Fraktion gewählt worden. In Belgien haben die Europaskeptiker von N-VA und Vlaams Belang bei den Parlamentswahlen die beiden Spitzenpositionen erobert. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat zwar bislang ihre EU-Partner im Rat eher positiv überrascht, wenn sie bei den Themen Ukraine-Hilfe oder Migration auf gemeinschaftliche Positionen eingeschwenkt ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich Melonis Partei Fratelli d’Italia als eine europakritische Kraft versteht, die sich viel mehr Rechte für nationale Vorbehalte und Sonderwege im Sinne eines „Europas der Völker“ wünscht.
In Frankreich schließlich ist zwar der befürchtete Durchmarsch von Rechtsaußen ausgeblieben. Das erklärt die große Erleichterung, mit der einzelne Europaabgeordnete oder nationale Regierungschefs auf das Ergebnis des zweiten Wahlgangs reagiert haben. Der Sieg des linken Blocks allerdings hat zugleich die Sorge geweckt, dass Frankreich auf absehbare Zeit als Schwungrad Europas ausfallen wird.
Noch ist es in der Tat viel zu früh vorauszusagen, wie sich Frankreich nach den Wahlen politisch sortieren wird – geschweige denn, was das genau für die EU bedeuten wird. Klar ist aber schon jetzt, dass der Prozess der politischen Einigung und der Gesetzgebung in der EU anders wird. Schwieriger. Langsamer. Erstens, weil mehr am Tisch sitzen, die zu keinen Zugeständnissen mehr bereit sind, um europäische Lösungen zu ermöglichen. Zweitens, weil der wichtigste Impulsgeber der europäischen Einigung – das deutsch-französische Tandem – künftig nicht mehr zur Verfügung steht. Jedenfalls nicht mehr in der Form, wie das Tandem bisher wirkte. Denn egal, wer künftig in Paris Premierminister sein wird, er wird in seinen europapolitischen Ambitionen von der Linken gezügelt werden und zugleich darauf achten müssen, Marine Le Pen kein zusätzliches Futter für die Präsidentenwahl 2027 zu liefern. Das spricht gegen große Visionen für Europa und gegen einen engen Schulterschluss mit Berlin in politisch weitreichenderen Fragen.
Gegenüber dem Argument, es tue der EU gar nicht schlecht, endlich einmal mit angezogener Handbremse zu arbeiten, ist Vorsicht geboten: Obacht! Denn eingeschränkte Handlungsfähigkeit heißt ja nicht, dass die EU weniger Regulierung erarbeitet. Sondern erst einmal nur, dass sie dann, wenn sie gebraucht wird – in der Pandemie, in der Energiekrise oder seinerzeit in der Finanzkrise – nicht zügig und wirkungsvoll reagieren kann.
Immerhin bleibt die Hoffnung, dass sich nun neue Formate herausbilden werden, die für die notwendigen Impulse in kritischen Situationen sorgen. So ist es kein Zufall, dass sich Diplomaten in Brüssel auf das erste Halbjahr 2025 freuen, weil dann die europafreundliche polnische Regierung die Geschäfte im Rat von Orbán übernimmt.
Der Prozess der politischen Einigung und der Gesetzgebung in der EU wird anders werden. Schwieriger. Langsamer.