Konjunktur

Das Rätsel des boomenden Arbeitsmarkts

Die Wirtschaft schwächelt, aber der Arbeitsmarkt boomt. Dabei kam es in vorherigen Krisen zu Entlassungen und steigender Arbeitslosigkeit. Was steckt dahinter?

Das Rätsel des boomenden Arbeitsmarkts

Das Jahr 2022 war von einer Vielzahl an Krisen geprägt – die abklingende Coronavirus-Pandemie sorgte für Lieferkettenschwierigkeiten und Materialengpässe, der russische Angriff auf seinen ukrainischen Nachbarn ließ die Energiepreise explodieren, und die Inflation erreichte ungeahnte Höhen. Der Wiederaufschwung nach dem Einbruch des Wirtschaftswachstums während der Coronajahre wurde auf ganzer Linie ausgebremst. Auf ganzer Linie? Nicht ganz. Der Arbeitsmarkt trotzte dem konjunkturellen Abschwung bislang.

Angesichts der enormen Belastungen seien die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt moderat gewesen, sagte Andrea Nahles, die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Anfang des Jahres bei ihrem Rückblick auf den vergangenen Turnus. Die Erwerbstätigkeit stieg in Deutschland auf ein neues Rekordhoch von 45,9 Millionen Personen im Schlussquartal 2022 – und auch für das laufende Jahr wird ein Rekord erwartet. „Wir haben auch hier gesehen, wie sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt doch zunehmend entkoppeln“, sagte Nahles.

Nicht nur die BA-Chefin hat die Entwicklung im Blick. Der Trend lässt sich auch beziffern. Der sogenannte Verdoorn-Koeffizient gibt die Reaktion der Erwerbstätigkeit auf eine Änderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an. Der niederländische Ökonom Petrus Johannes Verdoorn beschrieb schon 1949 den (damals noch klar) linearen Zusammenhang zwischen den beiden Variablen. Je höher der Koeffizient, desto größer die Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt. Gegenüber den 2000er Jahren hat sich der Verdoorn-Koeffizient bis 2019 mehr als halbiert.

Nicht mehr im Gleichschritt

Das bedeutet: Eine schwächere Konjunktur bedeutet nicht zwangsläufig sinkende Beschäftigungs- und steigende Arbeitslosenzahlen. Dass das eine nicht zwangsläufig das andere bedingt, zeigen auch die am Mittwoch veröffentlichten Frühjahrsprognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute. Sie erwarten für Deutschland im laufenden Jahr nur ein Miniwachstum der  Wirtschaftsleistung von maximal 0,5% – wenn überhaupt. Das Münchner Ifo-Institut rechnet sogar mit einem kleinen Minus. Auch für 2024 erwarten die am optimistischsten gestimmten Ökonomen des HWWI nur ein Wachstum von 1,9%. Am pessimistischsten ist das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) mit seiner Prognose von +1,4%.

Am Arbeitsmarkt hingegen sind die Aussichten den Wirtschaftsforschungsinstituten zufolge weiter gut: Die Arbeitslosenquote dürfte 2023 nach nationaler Rechnung relativ stabil bei 5,4% verharren. Für 2024 erwarten die meisten Ökonomen sinkende Arbeitslosenquoten.

Schwache Konjunktur, aber stabiler Arbeitsmarkt – so recht zusammenpassen mag das nicht: Ein Blick in die deutsche Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die Arbeitskräftenachfrage jahrzehntelang von der Konjunktur abhing (siehe Grafik). So führte 1977/1978 ein kräftiges Wirtschaftswachstum um 6,6% zu einem ebenfalls deutlichen Anstieg der Beschäftigung um 2,2%. Und als in der Rezession 2002/2003 das reale Bruttoinlandsprodukt um 0,4% schrumpfte, sank die Zahl der Arbeitnehmer um satte 1,9%.

Für gewöhnlich legte die Beschäftigung also weniger deutlich zu, als die Wirtschaft wuchs, oder sie ließ stärker nach, als die Konjunktur tatsächlich schwächelte. Die Produktivität, also das erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitnehmer, stieg ebenfalls kontinuierlich – zum einen infolge der technischen Weiterentwicklung, zum anderen weil die Unternehmen während rezessiver Phasen eher Personal abbauten, als ihren Kapitalstock anzupassen.

Das hat sich verändert. Ökonomen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg beobachten die Entkopplung von Konjunktur und Arbeitsmarkt schon länger. Bereits 2014 heißt es in einer Studie der IAB-Arbeitsmarktexperten Enzo Weber und Sabine Klinger: „Die prominenteste Ausnahme von dieser Regel ist die Große Rezession. 2009 schrumpfte das reale BIP um 5,6%; die Zahl der Arbeitnehmer blieb aber praktisch unverändert.“ Zudem registrierten die IAB-Forscher eine geringere Produktivität pro Arbeitnehmer – in weiten Teilen bedingt durch reduzierte Arbeitszeiten wie Kurzarbeit. Eine ähnlich große Zahl Arbeitnehmer bringt also deutlich weniger Wertschöpfung zustande. Nach Jahrzehnten kontinuierlichen Produktivitätswachstums in Deutschland folgte eine Trendwende.

„Seit der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 reagiert die Erwerbstätigkeit in Deutschland wesentlich robuster auf konjunkturelle Schwankungen als in den Zeiten davor“, erklärt IAB-Ökonom Weber auf Anfrage. „Arbeitskräfte sind so knapp wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr. Deshalb versuchen viele Betriebe, ihre Beschäftigten auch in konjunkturellen Schwächephasen zu halten.“ Eine Folge: Die Entlassungsquote liegt entsprechend so niedrig wie nie.

Angespannter Markt

Damit ist eine Ursache für die Entkopplung des Arbeitsmarkts von der konjunkturellen Entwicklung gefunden: der akute Fachkräftemangel, der im vergangenen Jahr auf ein Rekordhoch kletterte. Nie gaben laut Ifo hierzulande mehr Unternehmen (im Juli 49,7%) an, Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen zu haben. Deren Zahl erreichte laut Angaben der BA ebenfalls ein historisches Hoch. Auch der Arbeitskräfteknappheitsindex des IAB zeigt, dass die Stellenbesetzung immer schwieriger wird (siehe Grafik).

An den offenen Stellen allerdings lässt sich auch erkennen, dass nicht alle Verbindungen zwischen Konjunktur und Arbeitsmarkt gekappt wurden. „Die offenen Stellen reagieren in Abschwungphasen traditionell als Erstes, da Unternehmen zunächst auf Neueinstellungen verzichten, bevor vorhandenes Personal abgebaut wird“, erklärt Jörg Angelé, Senior Economist bei Bantleon, auf Anfrage. Vor dem Hintergrund, dass es Unternehmen immer schwerer fällt, im zur Verfügung stehenden Arbeitskräftepool geeignete Mitarbeiter zu finden, zögerten Arbeitgeber länger, Mitarbeitende zu entlassen, da sie sonst bei der nächsten Nachfragebelebung womöglich kein geeignetes Personal mehr finden würden. So sank die Beschäftigung während der großen Rezession vor 14 Jahren nur leicht, die Zahl der offenen Stellen hingegen ging um etwa die Hälfte zurück. Auch während des ersten Coronajahres brach die Zahl der offenen Stellen um mehr als ein Drittel ein, während die Beschäftigung stabiler blieb.

„Der wirtschaftliche Schock setzte den Arbeitsmarkt zwar massiv unter Druck, aber gestützt durch Kurzarbeit stabilisierte sich die Beschäftigung schnell“, analysiert IAB-Experte Weber. „Die grundsätzliche Stabilität kommt dem Arbeitsmarkt auch bei der Verarbeitung des wirtschaftlichen Schocks infolge der Energiekrise zugute.“ Das trifft insbesondere auf das verarbeitende Gewerbe zu. Gastronomie und Fluggesellschaften entließen zu Beginn der Pandemie massenhaft Angestellte und tun sich nun sehr schwer, neues Personal anzuheuern – da viele ehemalige Mitarbeiter in einer anderen Branche Jobs gefunden haben.

Sektorale Veränderungen

Neben der Arbeitskräfteknappheit und politischen Stützungsmaßnahmen wie der Kurzarbeit während der Coronakrise spielen aber auch strukturelle Trends eine Rolle. So ist die Entkopplung von Arbeitsmarkt und Konjunktur auch auf eine veränderte sektorale Zusammensetzung zurückzuführen – also den Wandel von einer Industrie- hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft.

Hier sind insbesondere die Alterung der Gesellschaft, die mehr Pflegepersonal erfordert, und der Ausbau der Kinderbetreuung maßgeblich. Das wird bei einem Blick in die Statistik deutlich: Zwischen Anfang 2007 und Ende 2022 hat sich die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe nur um 7,5% erhöht. Im Dienstleistungssektor inklusive Bausektor dagegen stieg sie im selben Zeitraum um 37%.

„Das hat auch damit zu tun, dass im verarbeitenden Gewerbe merkliche Produktivitätsfortschritte durch Automatisierung erzielt werden können“, erklärt Bantleon-Ökonom Angelé. Hingegen seien im Dienstleistungsbereich nur bedingt Produktivitätsfortschritte möglich. Ein Ausbau dieses Sektors – wie er derzeit stattfindet – ist also beschäftigungsintensiver. Zudem ist der Servicesektor – mit einigen Ausnahmen wie dem Gastgewerbe – weitgehend immun gegen direkte Auswirkungen globaler Konjunkturschwankungen. Die Industrie hingegen hängt stark auch von der Auslandsnachfrage ab. Ökonomen sprechen beim Dienstleistungssektor von „autonomem“, also von der Konjunktur unabhängigem Beschäftigungswachstum. Auch die außerordentlich hohe Zuwanderung aus Ost- und Südeuropa gilt als autonomer Wachstumstreiber.

Während sich also die Bindung der Beschäftigung an das BIP lockerte, hat der Einfluss anderer Faktoren zugenommen. So führt also der angespannte Arbeitsmarkt aufgrund des Fachkräftemangels zum Horten von Mitarbeitern. Auf diese Weise wird die Beschäftigung auch im Abschwung künstlich hochgehalten. Zudem wächst die Beschäftigung durch die veränderte Sektorenzusammensetzung der deutschen Wirtschaft autonom – und damit weitgehend unabhängig von externen Schocks.