Der wunderliche Boom der russischen Wirtschaft
Der wunderliche Boom der russischen Wirtschaft
Der Kreml und die Russen bauen wegen des Kriegs und der Sanktionen ihre Wirtschaft völlig um. Und plötzlich geht die Post ab. Aber wie funktioniert das Modell? Und warum ist die Zentralbank nah am Verzweifeln?
Von Eduard Steiner, Moskau
Im Jahr zwei des Ukraine-Kriegs waren Weihnachten und Neujahr in Russland fast wieder wie früher. Da und dort mag ein Unbehagen aufgekommen sein, weil manch einer doch gern ohne Umwege in den so beliebten Skiurlaub nach Courchevel, St. Moritz oder Ischgl geflogen wäre. Aber wenn eine Familie keinen Gefallenen an der Front zu beklagen hatte, konnte das wichtigste Fest des Jahres doch ungestört gefeiert werden. Schon Anfang Dezember berichteten die Moskauer Restaurants, die Buchungen für Weihnachtsfeiern lägen um teilweise bis zu 100% über dem Jahr davor. „Die Leute sagen uns: Die Produktion wachse, die Inflation sei nicht so hoch wie erwartet und mit den Herausforderungen sowie Sanktionen komme man zurecht. Das beeinflusst die Stimmung der Menschen – sie wollen Spaß haben“, sagte Sergej Mironow von der Restaurant- und Hoteliervereinigung zur Wirtschaftszeitung „RBC“.
Russische Wirtschaft 2023 stark gewachsen
Alles paletti also in Wladimir Putins Staat? Oder doch mehr Schein als Sein? Und wenn nicht, warum funktioniert die Wirtschaft trotz Krieg und Sanktionen so blendend, dass die Menschen keine besonderen Einbußen beim Wohlstand hinnehmen müssen und der Optimismus der Unternehmer ein Zehnjahreshoch erreicht hat?
Laut Putin ist die Wirtschaft 2023 um 3,5% gewachsen und machte damit die Schrumpfung um 2,1% im ersten Kriegsjahr 2022 wett. Auch wenn die Schätzungen diverser Institutionen etwas bescheidener ausfallen, bestätigen sie tendenziell diejenige von Putin. Und sollte er recht behalten, was die rasante Beschleunigung im Herbst nahelegte, stieg Russlands Wirtschaft sogar stärker als das globale BIP ( 2,9% laut OECD).
Über OECD-Durchschnitt
Was nun die Gründe für diesen Boom betrifft, so machen Experten neben dem Basiseffekt von 2022 vor allem drei aus: die immensen Budgetausgaben für den Krieg, diverse Formen des Gelddruckens und die offensive Kreditaufnahme durch die Bevölkerung. Es sei, wie wenn der Patient mit einer Spritze aufgepäppelt werde, sagte Oleg Wjugin, Ökonom und Ex-Vizechef der russischen Zentralbank, in einem Mediengespräch.
Das Leben der Menschen auf Pump hat der Staat selbst gefördert, indem er mit Spezialprogrammen Zuschüsse zu Kreditkosten – vor allem beim Wohnungskauf – gewährte und gewährt. Aber auch so hat die Bevölkerung vom Sparmodus im ersten Kriegsjahr auf Ausgeben im zweiten umgeschaltet, auch wenn sie das Geld dazu nicht immer hat. Ins Auge springt vor allem, dass die Anzahl der Personen mit gleichzeitig drei und mehr Krediten von Anfang 2022 bis Mitte 2023 um 29% auf 11,2 Millionen und ihre Schuldenlast um 33% hochgeschnellt sind.
Kriegswirtschaft treibt russische Konjunktur 2023 an
Der bedeutendste Teil – Ökonomen sprechen von einem Drittel – des Wirtschaftswachstums 2023 resultiert aus den Staatsausgaben für den Krieg. Putin selbst verweist auf das Plus von 7,5% in der verarbeitenden Industrie, zu der die Rüstungsindustrie gehört.
Russland ist auf Kriegswirtschaft umgeschwenkt. Und es wird diesen Weg 2024 noch konsequenter gehen, indem es die Ausgaben für Landesverteidigung um 70% auf 10,7 Bill. Rubel (105 Mrd. Euro) erhöht und den Ausgabenposten „Soziales“ auf Platz 2 verdrängt. Gewiss, mit etwa 6% des BIP sind die Verteidigungsausgaben 2024 weit von den 16% in den letzten Jahren der Sowjetunion entfernt und reichen auch nicht an die durchschnittlich gut 8% in den USA zur Zeit des Vietnam-Kriegs heran, wie Daten des russischen Exil-Mediums „The Bell“ zeigen. Aber im Vergleich zu den 3,8% in den USA im Jahr der Irak-Invasion 2003 ist der Anteil hoch.
Arbeitsmarkt ausgehungert
Und der Krieg hat die Wirtschaft durcheinandergewirbelt. Von allen Phänomenen, an denen dies sichtbar wird, ist der Arbeitsmarkt der augenfälligste. Da zu der Geburtendelle der 1990er Jahre die Mobilmachung im Herbst 2022 und die folgende Emigration Hunderttausender junger Männer hinzukommt, ist der Arbeitsmarkt ausgehungert wie noch nie. Im Oktober lag die Arbeitslosigkeit bei 2,9%.
Dies spüren vor allem Privatfirmen, da der Staat die Arbeitskräfte mit hohen Löhnen in die Rüstungsindustrie lockt. Die verarbeitende Industrie ist zum größten Lohntreiber geworden. Und auch für den Kriegseinsatz werden junge Männer fürstlich entlohnt, weshalb sie sich bereitwillig als Vertragssoldaten und Freiwillige melden – Verteidigungsminister Sergej Schoigu spricht von über 1.500 täglich.
Rekord bei Produktionsauslastung
Löhne und Kompensationszahlungen, die zusammen mit Krediten den Konsum treiben, sind das eine. Das andere sind die Produktionskapazitäten. Waffenfabriken arbeiten im Dreischichtbetrieb. Noch mehr aber fällt auf, dass die Produktionskapazitäten insgesamt so ausgelastet sind wie noch nie seit Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen im Jahr 2000. Im vergangenen Jahr wurde laut Zentralbank ein Höchstwert mit 80,9% erzielt.
Die neuen Umstände erfordern Investitionen. Tatsächlich stiegen diese zuletzt so stark wie seit zwölf Jahren nicht – zumindest nominell. Allein, sie dienen nicht so sehr dem Wirtschaftswachstum als vielmehr dem strukturellen Umbau, legt die Analyseplattform Re:Russia auf Basis von Zentralbankdaten dar: Der Rückzug westlicher Firmen müsse durch eigene Produktion ersetzt werden, der Wegfall qualitativer Importgüter auch. Die Umgehung der Sanktionen und die Verlagerung der Außenwirtschaft von Europa nach Südostasien erforderten teure Investitionen in die Infrastruktur.
Inflation steigt
Es ist wie beim Arbeitsmarkt: Um – ohne Steigerung der Produktivität – wenigstens das Rad am Laufen zu halten, muss man immer tiefer in die Tasche greifen. Das aber treibt die Inflation. Zuletzt erreichte sie 7,5%, wobei die gefühlte Inflation von der Zentralbank auf über 15% beziffert wird. Der Konsum, getrieben durch die Inflationserwartungen, heizt die Teuerung weiter an. Und die Zentralbank kommt mit dem Abkühlen nicht nach. Mitte Dezember hat sie den Leitzins von 15 auf 16% erhöht – das fünfte Mal in Folge seit Ende Juli, als er zu Beginn der rasanten Rubel-Abwertung bei 7,5% gelegen hatte.
Zentralbank-Chefin Elwira Nabiullina gehörte schon im Februar 2022 zu jenem Teil der Elite, der von dem damaligen Kriegsbeginn schwer schockiert war. Im Unterschied zu ihren Landsleuten und zu Putin, der sich mit dem schrägen Boom der Wirtschaft brüstet und auch wegen der Präsidentenwahlen im März 2024 die Staatsausgaben nicht drosseln wird, dürfte Nabiullina auch dieses Mal nicht nach großen Weihnachtsfeiern zumute gewesen sein.
Maue Prognose für 2024
Vor allem dann nicht, wenn sie auf 2024 blickt. Weil die Arbeitskräfte fehlen und die Produktionskapazitäten ausgelastet seien, prognostiziert die russische Ratingagentur Acra ein Wachstum von nur noch 0,5 bis 1,3%. Für die Jahre darauf sehe es nicht viel besser aus.
Russlands Bevölkerung schaltet auf Konsum – wie hier im Moskauer Warenhaus GUM.