Der Wettlauf um grünen Strom ist in vollem Gange
Es war ein Paukenschlag, als BASF im Mai 2021 ankündigte, gemeinsam mit RWE in der Nordsee einen Windpark mit einer Kapazität von 2 Gigawatt (GW) errichten zu wollen bzw. die Machbarkeit dieses Projekts zu prüfen. Der Chemiekonzern wollte sich mit 49 % an dem Windpark, für dessen Bau 4 Mrd. Euro veranschlagt wurden, beteiligen. Allein: Der Standort war noch nicht gefunden, geschweige denn die Fläche bezuschlagt. Daran hat sich fast zwei Jahre später noch nichts geändert. Das Projekt ruht, zum Stand der Dinge will sich keine Seite äußern.
Die Geschichte scheint als Beleg dafür zu taugen, dass Deutschland die Energiewende verschläft. Wahr ist, dass Deutschland beim Ausbau der erneuerbaren Energien mehr Tempo an den Tag legen muss, um die selbst gesteckten Klimaziele zu erreichen. Wahr ist aber auch, dass erst vor wenigen Tagen ein neuer Flächenentwicklungsplan zum Ausbau der Offshore-Windenergie in Nord- und Ostsee für die kommenden Jahre vorgelegt wurde.
Ende 2022 waren Offshore-Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von gut 8 GW in Betrieb, wie aus Erhebungen des Energiedienstleisters Deutsche Windguard hervorgeht. Zugleich hat die Bundesnetzagentur am Dienstag die Ausschreibung von Flächen für Offshore-Windenergie mit einer Gesamtleistung von 7 000 Megawatt gestartet. Das gesetzlich verankerte Ausbauziel liegt bei mindestens 30 GW bis 2030 und soll bis 2045 auf 70 GW gesteigert werden. Dass der Zubau massiv beschleunigt werden muss, zeigt sich daran, dass im vorigen Jahr offshore nur 342 Megawatt (MW) hinzukamen. Von dem in Deutschland 2022 erzeugten Strom von 547 Terawattstunden (TWh) entfielen 44,6 % auf erneuerbare Energien.
Grund für den erhöhten Strombedarf aus erneuerbaren Energien sind die Klimaschutzziele. Deutschland hat sich vorgenommen, bis 2045 klimaneutral zu sein. Damit geht ein signifikant erhöhter Strombedarf einher, gilt es doch Industrie, Gebäude und Verkehr zu elektrifizieren und zugleich Strom für die Wasserstoffproduktion bereitzustellen. Nach einer Studie von Agora Energiewende steigt die Stromnachfrage bis 2030 um 146 TWh auf 726 TWh und bis 2035 auf 894 TWh.
Da die Unternehmen, allen voran jene aus den energieintensiven Branchen, unter Nachhaltigkeitsaspekten zugleich gezwungen sind, ihre klimaschädlichen Emissionen kontinuierlich zurückzufahren, steigt die Nachfrage nach grünem Strom exponentiell. Allein in der Chemieindustrie steigt der Strombedarf ausgehend von 54 TWh (2020) bis 2045 auf 685 TWh, hat der Branchenverband VCI errechnet. BASF als größter Chemiekonzern hierzulande schätzt, dass sich der Strombedarf am Standort Ludwigshafen durch die Elektrifizierung bis 2035 auf 20 TWh zumindest vervierfachen wird.
Kein Wunder also, wenn gerade energieintensive Unternehmen beklagen, dass für die Dekarbonisierung nicht ansatzweise genügend grüner Strom zur Verfügung steht. Der Wettlauf um den Ökostrom ist vollends entbrannt. Um nicht leer auszugehen, mühen sich die Unternehmen derzeit, ihren künftigen Bedarf an grünem Strom vertraglich abzusichern. Das dafür geeignete Instrument sind langfristige Stromlieferverträge – sogenannte Power Purchase Agreements, kurz PPAs –, die mit grünen Zertifikaten ausgestattet sind, so dass der CO2-Reduktionsnachweis auch erbracht werden kann. Zwar gab es PPAs auch in der Vergangenheit, gerade Betreiber von konventionellen Kraftwerken verkauften große Teile des zu produzierenden Stroms vorab. Doch konventionelle Kraftwerke produzieren auch verlässlich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Strom.
„Bei PPAs geht es nicht nur um den Einkauf von Strom zum Festpreis, sondern um den Einkauf von nachhaltig produziertem grünen Strom. Dieser hat einen Wert an sich, um den CO2-Fußabdruck zu reduzieren“, sagt Ferdinand Rammrath, Vice President Einkauf Energie und Anorganika bei Covestro.
Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Unternehmen oder Versorger den Abschluss von PPAs verkündet. So legt Evonik, die im vergangenen November ihren ersten PPA-Abschluss bekannt gab, jetzt mit einem weiteren Vertrag nach. Nach 100 MW aus dem Offshore-Windpark He Dreiht, den EnBW gerade baut, haben sich die Essener jetzt weitere 50 MW aus diesem Windpark gesichert. Mit der Inbetriebnahme der Anlage wird 2026 gerechnet. Beide Lieferverträge haben eine Laufzeit von 15 Jahren.
Wie teuer der Strom wird, ist Verhandlungssache. „Der Markt hat sich weiterentwickelt. War die kostenbasierte Preisfindung auf Seiten der Anlagenbetreiber anfangs üblich, erfolgt die Preisfindung heute stärker marktgetrieben“, sagt Giulio Lolli, der bei Covestro den globalen Energieeinkauf leitet. Die Leverkusener müssen es wissen, waren sie im Dezember 2019 doch der erste namhafte Industriekonzern in Deutschland, der ein großvolumiges PPA über 100 MW abschloss – in diesem Fall mit der dänischen Orsted.
Zu diesem Zeitpunkt war die „Energiewelt“ noch in Ordnung. Will heißen, der Anlagenbauer musste vor Baubeginn einen bestimmten Prozentsatz des Stroms vorab verkauft haben, um überhaupt von Banken die erforderlichen Investitionskredite zu bekommen. In die Verhandlungen ging der Anlagenbauer und -betreiber mit einem Preis, der sich an den Investitions- und Betriebskosten samt Marge orientierte. Der Stromabnehmer zog für sein Preisgebot dagegen schon immer ein Fundamentalmodell zu Rate, aus dem die Strompreisentwicklung für beispielsweise die nächste Dekade abgeleitet wird. In der Regel wird neben der Vertragslaufzeit auch der Zeitraum für den Bau der Anlage in die Prognose einbezogen. Mit diesen beiden Ausgangswerten gingen die Vertragspartner in spe in der Vergangenheit in die Verhandlungen.
Tempi passati. Ende 2021 begannen die Gas- und mit ihnen die Strompreise Kapriolen zu schlagen. Das hat auch das Preisgefüge am PPA-Markt verändert. „Durch den schleppenden Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland ist es ein absoluter Verkäufermarkt geworden. Es gibt mehr Nachfrage als neue Kapazitäten. Dadurch steigen die Preise“, beklagt Rammrath. Die aktuellen Strompreise hätten nichts mehr mit den Kosten der Anlagenbetreiber zu tun.
„Das Absicherungsbedürfnis der Industrie bei Strom hat in den vergangenen anderthalb Jahren auch aufgrund der hohen Volatilität zugenommen“, konstatiert Hendrik Niebaum, der bei RWE Supply & Trading die Abteilung Commodity Solutions leitet. Den Vorwurf, die Erzeuger nutzten die aus dem Gleichgewicht geratene Angebots-Nachfrage-Situation zu ihren Gunsten aus, will er so jedoch nicht gelten lassen: „In der Preisdiskussion ist nicht nur auf das kurze Ende zu schauen, sondern für Langfrist-PPAs ist auch zu berücksichtigen, dass die abzudeckenden Kapitalkosten und die Baukosten gestiegen sind.“
Zudem dürfte sich auch die neue Ausschreibungspraxis der Netzagentur preistreibend auswirken. In der jetzt angelaufenen Flächenausschreibung für Offshore-Windparks soll erstmals ein dynamisches Gebotsverfahren zum Einsatz kommen. Den Zuschlag erhält der Bieter mit der höchsten Zahlungsbereitschaft – aus Nullgeboten, wie sie zuletzt üblich waren, werden negative Gebote. Der Bieter zahlt dem Staat einen Preis für das Baurecht. Ein Preis, der am Ende beim Stromkunden hängenbleibt. Die Erlöse aus dem dynamischen Gebotsverfahren sollen nach Angaben der Bonner Behörde zu 90 % in die Stromkostensenkung fließen.
Erst Mitte Januar hatte RWE den Abschluss von PPAs mit elf Industriekunden und einem Großstadtwerk für die Offshore-Windparks Nordsee Ost und Amrumbank West bekannt gegeben. Mehrheitlich laufen die Verträge über einen Zeitraum von zehn Jahren, beginnend 2025 bzw. 2026. Damit sei die gesamte Stromerzeugung der beiden Windparks über 1500 MW über Stromlieferverträge verkauft, heißt es. Die EEG-Förderung der beiden Windparks läuft nach den Angaben 2024 und 2025 sukzessive aus.
Auch die Politik sorgt sich angesichts der hohen Strompreise um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Im Bundeswirtschaftsministerium wird gerade an einem Konzept zur Einführung eines Industriestrompreises gearbeitet. Man müsse „die Vorteile der erneuerbaren Energien als Grundlage eines wettbewerbsfähigen Industriestrompreises bei den Unternehmen ankommen lassen“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich im Bundestag.
Doch der Abschluss eines PPA für Ökostrom geht weit über die Festlegung des Preises hinaus. Am Anfang der Verhandlungen steht die Frage, um welche Art von Stromliefervertrag es sich handeln soll. Denn anders als Stromabnahmeverträge aus konventionellen Kraftwerken bergen Ökostrom-Verträge das Wetterrisiko, wenn kein Wind weht oder die Sonne nicht scheint. Der Stromabnehmer muss also entscheiden, wie groß sein Risikoappetit ist. Je weniger Risiko der Vertrag enthält, desto höher der vereinbarte Festpreis.
Dem Wetterrisiko vollständig ausgesetzt sind Stromabnehmer in Verträgen, in denen nur bezahlt wird, was auch geliefert wird (pay as produced). In Verträgen, in denen sich Lieferant und Abnehmer das Risiko teilen (pay as forcasted oder as nominated), muss der fehlende Strom an der Börse nachgekauft werden. Wird weniger vorhergesagt, als benötigt wird, muss der Abnehmer die Differenz an der Strombörse nachkaufen, wird weniger produziert als vorhergesagt, muss sich der Erzeuger um die Beschaffung des fehlenden Grünstroms kümmern.
Doch auch hier gibt es Haken: „Das Wetterrisiko lässt sich über Versicherungsprodukte absichern, nicht absichern lässt sich die grüne Herkunft des Stroms“, erläutert Lolli. Das ist aber der springende Punkt, ist der Ökostrom doch genau aufgrund seiner nachhaltigen Eigenschaft so begehrt. Zwar gibt es auch PPA-Verträge, in denen das Wetterrisiko für den Abnehmer ausgeschlossen ist, doch sind die grünen Zertifikate, die in strukturierten PPA-Verträgen verwendet werden, von minderer Qualität. Jedes Unternehmen sei gut beraten, sich vor Abschluss eines PPA Gedanken zu machen, wie viele Abstriche bei der Zertifikate-Qualität akzeptiert werden. „Bei den Zertifikaten gibt es große Qualitätsunterschiede“, sagt Lolli. Die Bandbreite reicht von norwegischen Herkunftszertifikaten, bei denen es keinerlei Anschluss an das physische Netz gibt, bis hin zu Strom aus Solarpanels, die auf dem Firmendach installiert sind.
Beispiel Solaranlage: Der Abnehmer bekommt ein 24-Stunden-Band mit einem entsprechenden Kontingent an Zertifikaten. Doch wenn das Zertifikat beispielsweise für die Zeit zwischen Mitternacht und 1 Uhr morgens genutzt wird, wird es absurd. Rein regulatorisch mag die Rechnung sogar aufgehen, doch in der Diskussion mit Klimaaktivisten lässt sich diese Argumentation kaum verteidigen. Letztlich muss sich jedes Unternehmen den für das eigene Verbrauchsprofil passenden Ökostrommix zusammenstellen. Neben Offshore-Wind, der großvolumige PPA-Abschlüsse ermöglicht, kommen vor allem Onshore-Wind und Fotovoltaik in Frage. Für Zeiten der Dunkelflaute lassen sich Börsenkontrakte erwerben, auch wenn deren Zertifikate-Qualität geringer ist. Doch nicht nur Klimaaktivisten und NGOs sitzen den Firmen im Nacken. Viele Unternehmen haben sich konkrete Ziele gesteckt, bis wann sie ihren Energiebedarf klimaneutral ausgestaltet haben. Auch das gilt es in den Preisverhandlungen zu berücksichtigen, denn Grünstrom-Zertifikate und das Einhalten der Klimaziele haben einen Wert an sich.
Anders als Evonik, die dank großer Eigenerzeugungskapazitäten mit den beiden PPA-Verträgen schon die Hälfte ihres externen Strombedarfs weltweit abdeckt, hat Covestro noch einen weiten Weg vor sich. 2022 waren erst 12 % des globalen Strombedarfs grün, 2023 sollen es 16 % sein. Klimaneutralität beim Energieeinsatz strebt der Chemiekonzern bis 2035 an, bis 2030 soll der Anteil an Strom aus erneuerbaren Quellen auf 60 % hochgefahren sein. „Die größte Herausforderung ist, im Portfolio den Anteil an Grünstrom zu erhöhen. Den Strombedarf werden wir nicht zu 100 % über PPA abdecken können. Dafür müssten wir viel mehr PPAs abschließen, als wir benötigen. Sonst haben wir zu Zeiten mit guter Verfügbarkeit der Erneuerbaren eine völlige Überdeckung“, erklärt Rammrath. Die Folge: Um nicht selbst zum Stromhändler zu mutieren, müssen die Firmen stärker in strukturierte Produkte gehen auf Kosten der Zertifikate-Qualität.
Einen Sonderweg schlägt die BASF ein. Aufgrund des riesigen Strombedarfs verlässt sich der Chemiekonzern nämlich nicht nur auf den Abschluss von PPAs. Neben dem auf Eis liegenden Projekt mit RWE wurde ein vergleichbares Projekt mit der schwedischen Vattenfall angekündigt – der entscheidende Unterschied: Der Offshore-Windpark vor der niederländischen Nordseeküste befand sich 2021 bereits im Bau. BASF beteiligte sich zunächst mit 49,5 % an dem Windpark und reichte wenige Monate später die Hälfte der Beteiligung an die Allianz weiter. Gesichert haben sich die Ludwigshafener auf diesem Weg die Hälfte der Kapazität von 1,5 GW.
Von Annette Becker, Düsseldorf