Russland

Deutlicher Rückgang der Mittelschicht

Im Mai dieses Jahres hat Jaroslaw Kusminow nicht zum ersten Mal Alarm geschlagen – aber besonders laut. Die Situation sei „explosiv“, sagte er im Fernsehsender RBK. Denn ein bedeutender Teil der Bevölkerung sei in der Zeit der Corona-Pandemie aus...

Deutlicher Rückgang der Mittelschicht

Von Eduard Steiner, Moskau

Im Mai dieses Jahres hat Jaroslaw Kusminow nicht zum ersten Mal Alarm geschlagen – aber besonders laut. Die Situation sei „explosiv“, sagte er im Fernsehsender RBK. Denn ein bedeutender Teil der Bevölkerung sei in der Zeit der Corona-Pandemie aus der Mittelschicht nicht etwa nur eine Stufe tiefer gefallen. Er sei vielmehr direkt in die Armut abgesackt, weil die Existenzgrundlage flöten gegangen sei. Der Staat nämlich habe in der Krisenzeit zwar die Produktion unterstützt, nicht aber die Mittelschicht.

Der Befund ging wie ein Lauffeuer durch die Medien des Riesenstaats. Schließlich ist Kusminow nicht irgendwer. Der heute 64-Jährige Ökonom leitet als Rektor die namhafteste Wirtschaftsuniversität des Landes, die Moskauer Higher School of Economics (HSE). Und ist zudem mit Elvira Nabiullina, seit 2013 russische Zentralbank-Chefin, verheiratet. Dabei hat Kusminow nur auf den Punkt gebracht, was schleichend passiert: Die wirtschaftlich wichtige Mittelschicht verliert an Wohlstand und Größe. Das liegt vor allem am Rückgang der real verfügbaren Einkommen. Dies könnte laut Kusminow mit ein Grund sein, dass Russland keine wesentliche Steigerung des Wirtschaftswachstums mehr erreiche, sprich, im „Rahmen von 2%“ bleibe.

Die Coronakrise war bei all dem nur ein Problembeschleuniger. Das Problem selbst begann 2014, dem wirtschaftlichen Wendejahr. Damals sackte nicht nur der für Russland so entscheidende Ölpreis von zuvor 115 Dollar je Fass ins Bodenlose. Auch wurden infolge der Krim-Annexion vom Westen Sanktionen verhängt, die eine Beschränkung des Technologietransfers und eine Isolierung des Landes nach sich zogen. Das traf gerade auch die Mittelschicht, die auf Bildung, Innovation und Fortschritt bedacht und entsprechend wichtig ist, um andere Wirtschaftszweige jenseits des dominanten Rohstoffsektors zu entwickeln.

Statt Entwicklung kam die Stagnation. Das BIP stieg nach 2014 nur noch ein einziges Mal um mehr als 2% (2018: 2,8%). Die Rubelabwertung verhinderte zwar einen Schock im Inland, verteuerte aber importierte, höherwertige Produkte und Auslandsreisen exorbitant – beides Vorlieben der Mittelschicht. Nach Daten der staatlichen Statistikbehörde Rosstat lagen die real verfügbaren Einkommen Ende 2020 um 10,6% unter dem Niveau von 2013. Die Mittelschicht habe die neue wirtschaftliche Realität weit stärker zu spüren bekommen als die Schicht darunter, die ja ohnehin von staatlichen Zuwendungen lebe, erklärt Stepan Gontscharow vom Meinungsforschungsinstitut Levada Center auf Anfrage der Börsen-Zeitung.

Der Rückgang des Wohlstands seit 2014 war ein schneller Paradigmenwechsel in der jungen Geschichte der russischen Mittelschicht. Deren Wohlstand, dessen Aufbau der Kremlchef Wladimir Putin anfänglich generös erlaubt hatte, basiert auf der Rohstoffhausse der Nullerjahre. Wohlstandsaufbau gegen Verzicht auf politische Einmischung hatte der Gesellschaftsvertrag gelautet.

„Der Kreml hatte die als innovativ geltende Mittelschicht in dieser Zeit sogar umgarnt“, sagt Alexej Makarkin, Vizepräsident des Moskauer Zentrums für politische Technologien, zur Börsen-Zeitung: „Damals war Modernisierung ein modernes Wort. Die Mittelschicht durfte alles außer Politik.“ Sie hat sich aber nur eine Zeit lang daran gehalten. Ende 2011 protestierte sie in Massen auf den Straßen. Putin habe reagiert, indem er mit der Mittelschicht gebrochen habe, erklärt Makarkin. Seither sei sie für ihn eher ein Störenfried als eine wichtige Säule im Staat. So habe er auch in Kauf genommen, dass sie absteigt. Verdächtig ist Putin diese Schicht nicht nur wegen ihres partiell politischen Dissenses. Auch weil sie die initiativen Privatunternehmer stellt, ist sie ihm, dem Freund der Staatswirtschaft, suspekt. Nicht zufällig hat Putin 2020 in einem Interview zugegeben, er habe „bestimmte Gründe dafür“, Geschäftsleute „grundsätzlich als Gauner“ zu sehen.

Das Segment der Klein- und Mittelunternehmer (KMUs) in der russischen Wirtschaft ist aber ohnehin nicht groß. Die kürzlich veröffentlichten Rosstat-Daten für 2019 zeigen, dass der Anteil der KMUs am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur 20,6% beträgt. Wenn der Prozentsatz nicht zulege, werde Putins Vorgabe, die russische Wirtschaft dürfe nicht langsamer wachsen als die Weltwirtschaft, nicht umzusetzen sein, hielt das Wirtschaftsinstitut Stolypin schon vor Jahren fest. Die Ansicht teilt auch Putin prinzipiell, weshalb er 2018 verfügt hat, den Anteil der KMUs am BIP bis 2025 auf 40% zu verdoppeln. Vorerst aber läuft die Tendenz nicht in diese Richtung.

Auch wenn eine gewisse Korrelation zwischen KMUs und Mittelschicht besteht: Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht könne nicht nur aufgrund der Arbeitsform und des Einkommens definiert werden, sondern setze auch andere Kriterien wie Wohnniveau, Bildungsmöglichkeit, den Horizont der Lebensplanung und die Selbstwahrnehmung voraus, erklärt Soziologe Gontscharow. Denn nehme man nur die Definition der Weltbank, der zufolge derjenige zur Mittelschicht zählt, dessen Einkommen das Minimaleinkommen zumindest um das Anderthalbfache übersteigt und damit im Vorjahr etwa 17000 Rubel (200 Euro) betrug, so mache die Mittelschicht in Russland 70% der Bevölkerung aus. Genau das hat Putin im Vorjahr in einem Interview auch behauptet. Unter Einbeziehung der oben genannten Kriterien sei der tatsächliche Prozentsatz der Mittelschicht in den Jahren 2000 bis 2018 zwischen 20 und 29% gependelt, so Gontscharow.

Die Welt solle nicht glauben, dass Russland eine riesige Mittelschicht hat, nur weil Massen von Russen im Urlaub in der Türkei oder im Westen anzutreffen seien, sagt Politologe Makarkin. „Es sieht nur viel aus, weil wir eben viele Einwohner haben.“ Der Kern der Mittelschicht aber betrage keine 10% der Bevölkerung. Und davon sei wiederum nur ein Teil auch westlich orientiert. „Putin weiß nicht recht, was er mit ihnen tun soll, denn sie wollen mehr Marktwirtschaft und Demokratie. Nicht zufällig emigrieren sie wieder vermehrt. Und dem Kreml ist das durchaus recht.“