Unterm Strich

Die Illusion vom „Wandel durch Handel“

Es besteht die Gefahr, dass sich auf Chinas Weg zur führenden Wirtschaftsmacht eine ganz andere Form von „Wandel durch Handel“ durchsetzt.

Die Illusion vom „Wandel durch Handel“

Das Prinzip „Wandel durch Handel“ habe sich durch den Ukraine-Krieg Russlands als Lebenslüge des Westens erwiesen. Auch das zunehmend repressiver werdende China sei der Beleg, dass die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ trüge. So lautet nicht erst seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, seither aber nahezu unisono auf westlicher Seite die Einschätzung eines Grundsatzes, der fünf Jahrzehnte lang die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des freiheitlichen Westens zu diktatorischen Regimen geprägt hat. Dieser plötzliche Bewusstseinswandel hat eine einfache Erklärung: Es ist viel bequemer und angesichts der grausamen Kriegsverbrechen leichter erträglich, die Ursache für diese Entwicklung einer kollektiven Fehleinschätzung namens „Wandel durch Handel“ zuzuschieben als eigenen individuellen Fehlern als verantwortlicher Politiker oder Unternehmer.

Grundlage der Ostpolitik

Besonders ausgeprägt war der Glaube an „Wandel durch Handel“ in Deutschland, wo er bis in die ersten Kriegstage noch von den Befürwortern der Erdgaspipeline Nord Stream 2 verteidigt wurde. Besonders vehement von SPD-Politikern, für die der 1963 von Egon Bahr als „Wandel durch Annäherung“ entworfene Be­griff Grundlage der deutschen Ostpolitik und Teil der eigenen politischen Sozialisierung geworden war. Praktische Umsetzung fand diese Politik ab 1970 in den unter Bundeskanzler Willy Brandt gestarteten Röhren-Erdgas-Geschäften, bei denen Mannesmann und Thyssen die Röhren lieferten, ein Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank die Finanzierung stellte und Russland später mit Erdgas bezahlte. Aber auch in CDU und CSU fand diese Politik der Annäherung durch Wirtschaftsdeals viele Befürworter, darunter sogar Franz Josef Strauß, der einst an der Bundesregierung vorbei einen Milliardenkredit für die DDR einfädelte und Ende 1987 selbst nach Russland flog, um mit Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow über die politische und wirtschaftliche Annäherung zu sprechen.

Irrtum der Ökonomen

Auch viele Ökonomen waren davon überzeugt, dass die wirtschaftliche Öffnung zentralverwaltungswirtschaftlicher Staaten eine politische Öffnung und Demokratisierung zur Folge haben müsste. Basierend auf Walter Euckens Theorie der Interdependenz der Ordnungen unterstellten sie, dass eine von Handel und wachsendem Wohlstand zu mehr Markt veränderte Wirtschaftsordnung dann auch die politische und gesellschaftliche Ordnung durchdringen und freiheitliche Elemente etablieren würde. Ähnlich argumentierten Friedrich August von Hayek und Ludwig Erhard, die davon überzeugt waren, dass eine auf politischem Zwang und Unfreiheit aufgebaute Staatsordnung mit einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung nicht vereinbar sei. Dass es Menschen geben könnte, die gegen Sicherung eines gewissen Wohlstandes auch den Weg in die Knechtschaft akzeptieren würden, passte nicht in ihr Weltbild. Das Ende des Kalten Krieges und der davon abgeleitete Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus bekräftigte jedenfalls die Erwartung, dass der freie Markt zum Türöffner für die politische Freiheit werde. Und dass Deutschland als führender Handels- und Exportnation dabei eine besondere Rolle zukomme.

Mit dieser Vision im Hinterkopf war man bereit, die zunächst gegenteilige Entwicklung zu ignorieren. Dass nämlich die Sowjetunion vor ihrem Zerfall zwar wirtschaftlich am Ende war, nicht zuletzt durch das Wettrüsten mit den USA, aber die anschließende wirtschaftliche Öffnung und der Handel mit dem Westen das politische System in Russland und die Macht der Kommunistischen Partei stabilisieren half. Man glaubte, die Überfälle auf angrenzende Gebiete von ehedem zur Sowjetunion gehörenden Nachbarländern wie Georgien und Ukraine sowie die zunehmenden Repressionen unter Partei- und Staatschef Wladimir Putin als vorübergehende Rückschläge auf dem langen Weg Russlands zu mehr Freiheit und Demokratie hinnehmen zu müssen. Anders als zur Zeit des Kalten Krieges verzichtete man darauf, den Handel mit dem Wandel zu verknüpfen und unmissverständlich an Bedingungen wie Freiheits- und Menschenrechte zu binden.

Chinas Doppelstrategie

Nicht so martialisch wie Russland, aber ebenso nachdrücklich hat China die Illusion vom Wandel durch Handel platzen lassen. Während China sich schrittweise in die westlich dominierte Ordnung integrierte, etwa beim Welthandel oder auch im Klimaschutz, und damit für den Westen zum attraktiven Investitionsziel und begehrten Handelspartner aufstieg, wurden nach innen der Überwachungsstaat verschärft und Freiheitsrechte eingeschränkt. Peking hat gelernt, kapitalistisches Wirtschaftssystem und Parteidiktatur zu kombinieren. Erst allmählich dämmert den China-Verstehern im Westen, dass das Reich der Mitte nicht auf dem Weg zu Marktwirtschaft und freiheitlicher Ordnung ist, sondern nach einstiger Größe strebt – ähnlich wie es offenkundig Putin für Russland vorschwebt.

Wer wandelt hier wen?

Es ist zu befürchten, dass sich auf Chinas Weg zur angestrebten Weltherrschaft die These von der Interdependenz der Ordnungen in ganz anderer Weise bestätigen könnte: nämlich durch Infiltration der westlichen Länder und Handelspartner. Unternehmen, die mit China im Ge­schäft bleiben wollen, halten bei Themen wie Menschenrechten, Minderheitenschutz, Datenschutz oder Um­weltschutz heute schon den Mund und schauen weg. Denn Deutschlands und Europas Wirtschaft ist vom chinesischen Absatz- und Zuliefermarkt nicht weniger abhängig als vom russischen Gas. Sich diesem „Wandel durch Handel“ zu widersetzen, hätte zweifelsohne Wohlstandsverluste zur Folge. Ihn zu akzeptieren und gestalten zu wollen, wäre Lebenslüge und Kapitulation zu­gleich.

c.doering@boersen-zeitung.de