Digitale Revolte im Klassenzimmer
Eigentlich sind wir ganz gut durch den Lockdown gekommen. Es gab zwar auch im mittlerweile dritten landesweiten Lockdown so gut wie keinen Live-Online-Unterricht, aber die Kinder hatten die Möglichkeit, mit Hilfe der Hangouts-Funktion des Google-Klassenzimmers miteinander in Kontakt zu bleiben. Sie konnten zusammenkommen, ohne dass vorher auf dem Umweg über die Eltern eine Zoom-Videokonferenz organisiert werden musste. Dafür benötigten sie nicht einmal eine eigene E-Mail-Adresse. Doch plötzlich, an einem der vielen trüben Wintertage, wurde dieses Feature von der Schule ohne Vorwarnung abgeschaltet. „Leider mussten wir diese Entscheidung fällen, weil einige Schüler die Website missbrauchten und andere Kinder für ihre eigene Kommunikation zu abhängig davon werden – und wir können sehen, dass sich das auf einen Teil ihres schulischen Lernens auswirkt“, verlautbarte die Grundschulleitung in der ihr eigenen Mischung aus Anmaßung und Herablassung, was in den Whatsapp-Elterngruppen mitunter wütende Reaktionen auslöste.
Für viele Kinder war Google Hangouts die einzige Möglichkeit, noch mit ihren Freunden zusammenzukommen. In diesem Alter hat noch nicht jeder eine eigene E-Mail-Adresse oder gar ein eigenes Internet-Endgerät. Und Eltern haben oft andere Dinge zu tun, als die sozialen Kontakte ihrer Sprösslinge zu organisieren. Wie der angebliche Missbrauch durch die Grundschüler ausgesehen hat, wurde nie erklärt. Schwerwiegende Entgleisungen sind kaum vorstellbar. Vieles spricht dafür, dass sich das Google-Klassenzimmer einfach nur der Kontrollwut der Pädagogen entzog. Dafür sprach auch der Zusatz: „Durch die Entfernung von Google Hangouts verschwindet hoffentlich auch die Versuchung, während des Unterrichts miteinander zu chatten.“ Und anders als in der brutalen Wirklichkeit des Präsenzunterrichts, in der Lehrer tuschelnde und kichernde Kinder niederbrüllen, um sich Gehör zu verschaffen, konnten sie den lieben Kleinen im virtuellen Klassenzimmer einfach den Stecker ziehen. Der Vorwurf, die Kinder würden zu abhängig von dieser Kommunikationsform, ist in einer Zeit, in der man gehalten ist, ohne triftigen Grund nicht das Haus zu verlassen und alle sozialen Kontakte zu minimieren, ebenso grausam wie lächerlich. Die Schule schaltete Google Hangouts übrigens allen Elternprotesten zum Trotz nicht wieder frei. Natürlich ist es nicht Aufgabe stets gestresster Lehrer, den Schülern unter den Bedingungen der Ausgangssperre ein soziales Leben zu ermöglichen. Sie sollten es aber auch nicht gezielt unterbinden, zumal es keine Angebote der Schule gab, sich auf einem digitalen Pausenhof oder einer Online-Spielwiese zwanglos zu treffen.
Die Kinder wurden durch die willkürliche Entscheidung der Schulleitung nicht abgeschreckt. Wer seinen Eltern ein Smartphone abringen konnte, nutzt Whatsapp und andere Push-Dienste, um sich seinen Freunden mitzuteilen. Andere haben eigene Discord-Server. Der Onlinedienst, über den man nicht nur chatten und Dateien austauschen, sondern auch Telefonate und Videokonferenzen abwickeln kann, bediente zuvor vor allem die Bedürfnisse von Hardcore-Gamern und politischen Extremisten. Es wird der Schule schwerfallen, den Kampf um die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Das Medium Online ernst zu nehmen, würde dabei helfen. Doch kündigte die Schulleitung bereits an, das digitale Lernangebot mit der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts am 8. März einzustellen. In Großbritannien genießen Lehrer im Vergleich zu Deutschland noch ein vergleichsweise hohes Ansehen. Sie sind dabei, es zu verspielen. Statt eines Elternabends wurde zuletzt ein digitaler Elterntag angeboten, an dem die Kinder zuhause bleiben sollten, um den Lehrern den Rücken für Gespräche frei zu halten. Als das bei Berufstätigen nicht gut ankam, wurde der Termin zur Strafe ganz abgesagt.
Das gesamte Bildungswesen dürfte sich durch die Pandemie auf heute noch unvorstellbare Weise verändern. In den vergangenen Jahren stiegen nur die Kosten, ohne dass sich das Angebot wesentlich verbessert hätte. IT-Konglomerate wie Google (Alphabet) und Microsoft haben das früh erkannt. Ihre künftigen Angebote werden unschlagbar sein.