LeitartikelEuropäische Union

Europas Problemzonen

Die Peripherie wächst, das Zentrum stagniert. Und das deutsch-französische Tandem ist kein Schwungrad mehr. Höchste Zeit für die EU, sich auf die großen Aufgaben zu besinnen.

Europas Problemzonen

Europäische Union

Die Problemzonen verschieben sich

Von Detlef Fechtner

Es gibt große, anspruchsvolle Aufgaben, auf die sich die EU konzentrieren sollte, denn dort wird sie gebraucht.

Für alle, die der Europäischen Union wohlwollend gegenüberstehen, ist die Lektüre von Nachrichten derzeit ein masochistisches Ritual. Denn für Anhänger der europäischen Idee gibt es aktuell keine guten Nachrichten. Bestenfalls gibt es Nachrichten, die nicht ganz so schlecht sind wie befürchtet. So auch am Wochenende: Bei den Parlamentswahlen in Rumänien haben die EU-Gegner am rechten Rand ihre Stimmanteile verdoppelt. Aber immerhin haben sie nicht geschafft, stärkste politische Kraft zu werden. Aus Frankreich reißen ebenfalls die negativen Meldungen nicht ab. Die Regierung wird von rechts und links außen stark unter Druck gesetzt. Vor diesem Hintergrund sind die Risikoprämien kürzlich sogar höher als die Spreads von Griechenland gestiegen. Aber auch hier gibt es ein „Immerhin“: Immerhin hat S&P das Länder-Rating und den stabilen Ausblick bestätigt.

Mitteleuropa wird zur Problemzone

Das Beispiel Frankreichs zeigt: In der EU und vor allem im Euro-Währungsgebiet haben sich die Problemzonen von der Peripherie ins Zentrum verlagert – sowohl unter wirtschaftlicher und haushaltspolitischer als auch politischer Perspektive.

Wirtschaftlich ist das am augenfälligsten: Nächstes Jahr werden laut EU-Herbstprognose genau zwei Mitgliedstaaten beim Wachstum eine Null vor dem Komma ausweisen: Deutschland und Frankreich. Hingegen zählen Irland, Zypern, Griechenland, Spanien und Portugal zu den Ländern mit Wachstumsraten oberhalb des Euro-Durchschnitts. Also genau die fünf „Programmländer“, die vor gut einem Jahrzehnt am Abgrund standen und nur mithilfe der Euro-Partner der Staatspleite entkamen.

Ehemalige Krisenländer zeigen, wie Haushalt geht

Auch was Haushaltspolitik und Staatsfinanzen angeht, kann sich manches Kernland einiges bei der Peripherie abschauen. Griechenland hat seine Schuldenquote in drei Jahren um 44 Prozentpunkte abgebaut, Portugal um 28, Frankreich hingegen um exakt null. Schlimmer noch: Es wird erwartet, dass die Schuldenquote bis 2026 spürbar steigt. Das erklärt übrigens zu einem wesentlichen Teil das Unbehagen, mit dem Investoren auf die Debatten in Frankreich schauen.

Ebenfalls ernüchternd fällt der Blick auf die Politik aus – und den Beitrag nationaler Regierungen daran, dass die EU vorankommt. Das deutsch-französische Tandem, viele Jahrzehnte das Schwungrad der EU, fällt auf absehbare Zeit aus – zumindest in der Form, wie es früher wirkte. Europapolitische Initiativen der französischen Regierung werden nicht nur durch die Rechten gebremst, sondern auch die Linken. Derweil hat sich Deutschland durch wiederholte Kehrtwenden vor allem der liberalen Minister und durch regelmäßige Unentschiedenheit der Ampel in wichtigen Fragen den Makel der Unberechenbarkeit eingehandelt. Für eine neue Bundesregierung wird es mühsam werden, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Gerade jetzt braucht es die EU

Was also tun, damit die EU handlungsfähig bleibt – trotz wirtschaftlicher Schwäche, Haushaltsrisiken und politischer Führungslosigkeit? Die pauschale Empfehlung, die EU solle sich am besten in Zurückhaltung üben, ist wenig zielführend. Die Rufe nach „weniger Europa“ verdecken nur – übrigens genauso wie Forderungen nach „mehr Europa“ – in ihrer Unbestimmtheit den Blick darauf, worum es eigentlich geht. Die EU hat in Pandemie und Energiekrise belegt, dass sie sehr wohl zur Lösung von Problemen beitragen kann. Sie hat das im Übrigen auch in der Finanzkrise unter Beweis gestellt – denn sonst wären die damaligen fünf Programmländer heute nicht obenauf.

Die Europäische Union hat also dokumentiert, dass sie Krisenbewältigung kann. Das sollte sie heute beherzigen. Es gibt große, anspruchsvolle Aufgaben, auf die sie sich konzentrieren sollte, denn dort wird die EU dringend gebraucht – sei es im Klimaschutz oder im Außenhandel, wo in beiden Fällen die USA vom Partner zum Kontrahenten zu werden drohen. Daneben ist und bleibt es oberstes Mandat der EU, den Binnenmarkt fortzuentwickeln. Dass sie das viel pragmatischer tun sollte als bisher, dass sie also viel mehr den Aufwand berücksichtigen muss, den ihre Vorgaben auslösen, das hat die EU-Kommission zuletzt versprochen. Es wird für die Akzeptanz der EU spielentscheidend sein, dass sie sich nun auch daran hält.

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