Großbritannien

Faktor Arbeit unter Druck

Großbritannien droht alles andere als eine Lohn-Preis-Spirale. Zinserhöhungen sind eine Reaktion auf die Schwäche der Angebotsseite. Viel Spielraum dafür gibt es nicht.

Faktor Arbeit unter Druck

Der rasante Anstieg der Teuerungsrate hat in Großbritannien zu Ängsten vor einer Lohn-Preis-Spirale ge­führt. Im November stiegen die Verbraucherpreise um 5,1 %. In diesem Jahr könnte die Inflation leicht auf 7 % steigen. Dazu dürften die hohen Energiepreise den entscheidenden Beitrag leisten. Der ehemalige Chefvolkswirt der Bank of England, Andy Haldane, warnte vor seinem Abschied vor einer ähnlichen Situation wie in den 1970er und 1980er Jahren, als die Gewerkschaften noch Lohnabschlüsse durchsetzen konnten, die mehr als einen Inflationsausgleich darstellten. Besteht zu solchen Sorgen wirklich Anlass?

In der neuesten Umfrage von Deloitte unter britischen Finanzchefs berichtet fast die Hälfte von wesentlichen, wenn nicht gar schwerwiegenden Problemen bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter im abgelaufenen Quartal. Knapp ein Viertel geht davon aus, dass diese Schwierigkeiten bis ins kommende Jahr fortbestehen werden. Die Überalterung der britischen Gesellschaft sorgt dafür, dass die Erwerbsbevölkerung durch Verrentung schrumpft. Der EU-Austritt­ hat den zuvor so beliebten Rückgriff auf Arbeitskräfte vom Kontinent erschwert. Zuletzt waren so viele Stellen ausgeschrieben wie nie zuvor – mehr als 1,2 Millionen. Sollte das nicht denjenigen, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, eine größere Verhandlungsmacht verschaffen?

Viele Volkswirte sehen das derzeit so. Allerdings ist es recht unwahrscheinlich, dass Ge­werkschaften Lohnerhöhungen herausholen können, die den Preisauftrieb in den Schatten stellen. Dazu hat sich der Arbeitsmarkt seit den 1980er Jahren zu sehr verändert, nicht zuletzt durch den Siegeszug der Gig Economy. In der Privatwirtschaft ist der Einfluss der Arbeitnehmervertreterorganisationen nicht nur im Vereinigten Königreich dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne. Allein im öffentlichen Dienst verfügen sie noch über die Stärke, nicht nur Niederlagen einzustecken, sondern auch einmal eine Forderung durchzusetzen.

Zudem müssen ausgeschriebene Stellen nicht zwingend besetzt werden. Gut ein Siebtel wurde vom Gastgewerbe angeboten, das mittlerweile unter den Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Virusvariante Omikron ächzt. Dort werden derzeit eher weniger Mitarbeiter benötigt. Auch die öffentliche Hand schrieb zahlreiche Jobs aus. Dort begrenzen Budgetvorgaben den Anstieg der Gehälter.

Die Arbeitsmarktdaten des Statistikamts ONS dürften künftig nicht mehr von staatlichen Lohnsubventionierungsmaßnahmen verzerrt werden. In den vergangenen Monaten hatten sie das Bild vermittelt, dass die Löhne im Vereinigten Königreich enorm steigen. Dabei zeugten sie in erster Linie von der veränderten Zusammensetzung der Grundgesamtheit. In der Pandemie verloren Geringverdiener zuerst ihre Arbeit und fielen damit aus der Statistik. Dadurch entstand der Eindruck, dass alle mehr verdienten. Tatsächlich steigen die Verbraucherpreise schneller als die Einkommen. Das bedeutet, wie schon in den Jahren nach der Finanzkrise, schrumpfende Realeinkommen für Arbeitnehmer. Bei der Bank of America geht man von einem so starken Rückgang aus wie zuletzt im Jahr 2011.

Damit nicht genug: Premierminister Boris Johnson setzt nicht auf einen schlanken Staat. Anders als seine konservativen Vorgänger hat er keine Steuervorteile im Angebot, um den Druck auf den Faktor Arbeit abzumildern. Stattdessen erhöht er die Sozialversicherungsbeiträge. Steuerfreibeträge und Mindestschwellen werden eingefroren. Auf Einnahmen wie die Mehrwertsteuer auf die stark gestiegenen Energierechnungen oder diverse „grüne“ Abgaben will die Regierung derweil nicht verzichten. Und noch eine Belastung für die privaten Haushalte: Die Bank of England hat bereits den ersten Zinsschritt nach oben getan, dem noch weitere folgen dürften. Für viele Eigenheimbesitzer bedeutet das, dass die monatlichen Raten nach der nächsten Refinanzierung der Hypothek deutlich höher ausfallen werden. Viel Spielraum nach oben hat die Notenbank allerdings nicht, denn der sogenannte neutrale Zins, der weder eine stimulierende noch eine dämpfende Wirkung auf die Wirtschaft hat, dürfte sehr niedrig liegen. Doch sie muss auf die negativen Angebotsschocks reagieren, die sich zum einen aus dem Brexit und zum anderen aus den weltweit spürbaren Lieferengpässen ergeben. Noch wird der britischen Wirtschaft für 2022 ein stärkeres Wachstum unterstellt als anderen G7-Ländern. Es dürfte schnell wieder nachlassen.

                                                        (Börsen-Zeitung,

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