Karlsruhes kaputter Kompass
Karlsruhes
kaputter Kompass
Von Sebastian Schmid
Eine Regel unter Journalisten lautet, sich mit Richterschelte zurückzuhalten. Das liegt nicht nur daran, dass Juristen argumentativ besonders geschult sind. Die Auslegung juristischer Sachverhalte ist schlicht zu komplex für Laien und Tastatur-Cowboys. Allerdings fällt auch dem unbedarften Beobachter auf, dass das Bundesverfassungsgericht in aktuellen Entscheidungen die Entschiedenheit vergangener Urteile vermissen lässt. So hat Karlsruhe der Regierung früher gerne mal Denksportaufgaben mitgegeben. Sei es mit Urteilen zum Klimaschutz oder zur Umwidmung von Mitteln zur Bewältigung der Corona-Pandemie.
Das jüngste Urteil, das dem Solidaritätszuschlag quasi eine Bestandsgarantie bis 2030 gibt, fällt in eine andere Kategorie. In der aktuellen Legislaturperiode muss der Soli jedenfalls nicht angefasst werden. Allenfalls die Urteilsbegründung erfordert Gehirngymnastik: Dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sei ein „offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zum Bundesgebiet zurückzuführenden Mehrbedarfs des Bundes“ (noch) nicht feststellbar. Einem entsprechenden Gutachten wollten die Richter nicht widersprechen. Wer zu so einer Einschätzung kommt, arbeitet – willentlich oder nicht – aktiv daran, die Spaltung von Ost und West eher zu perpetuieren.
Geld für Investitionen ist genug da
Selbst wenn das Karlsruher Urteil von Erwägungen getrieben wurde, die schwierige Regierungsbildung nicht durch eine zusätzliche Aufgabenstellung zu erschweren, erscheint es unnötig. Geld für Infrastrukturmaßnahmen ist durch eine vorangegangene Entscheidung mehr als ausreichend vorhanden: Die Richter selbst haben den Weg freigemacht für eine Verfassungsänderung, die ein Sondervermögen für Infrastrukturinvestitionen und quasi unbegrenzte Verteidigungsausgaben ermöglicht. Auch für die Ost-Länder sind damit mehr als genug Finanzmittel da.
Der Versuch, es der neuen Koalition einfach zu machen, erreicht das Gegenteil. Die Beibehaltung des Rest-Soli wird eine Einigung auf eine dringend nötige Steuerreform eher erschweren als erleichtern. Die SPD dürfte sich die Abschaffung der bei ihren Anhängern beliebten Steuer für Spitzenverdiener teuer abkaufen lassen. Karlsruhes kaputter Kompass hat die Koalitionspartner in schwierigeres Fahrwasser navigiert. Vielleicht sollten die Richter sich weniger bemühen, die politischen Rahmenbedingungen in ihre Urteile einzubeziehen. Wenn die Politik mit dem Ergebnis nicht umgehen kann, liegt das nicht in der Verantwortung der Verfassungsrichter. Dafür tragen sie schließlich rote Roben.