Wenn der Kurszettel schrumpft
London Stock Exchange
Wenn der Kurszettel schrumpft
Von Andreas Hippin
Immer mehr Übernahmen, immer weniger Börsengänge: Londons Marktbetreiber LSEG setzt auf andere Einnahmequellen.
Immer mehr Unternehmen sind zuletzt in London vom Kurszettel gestrichen worden. Da spielt es fast keine Rolle mehr, ob sich ein Finanzinvestor wie Daniel Křetínský die Muttergesellschaft der Royal Mail einverleibt oder der Süßwarenhersteller Mars den Schokoladenfabrikanten Hotel Chocolat. Britische Gesellschaften sind offenbar aus Sicht der Käufer so günstig bewertet, dass man zuschlagen muss. Zuletzt holte sich Blackstone den Hipgnosis Songs Fund.
Wenn genug Firmen aufs Parkett streben würden, um die sich lichtenden Reihen zu schließen, wäre das alles kein Problem. Doch es fehlt an Börsenkandidaten. Waren 2007 noch 1.694 Firmen am Wachstumssegment AIM notiert, so lag dieser Wert zuletzt bei 730. Im Niedrigzinsumfeld ließen sich auch für ausgefallene Geschäftsideen privat erhebliche Mittel mobilisieren.
Private Markets sind attraktiver
Das ist zwar vor dem Hintergrund der gestiegenen Zinsen etwas schwieriger geworden. Es werden schneller schwarze Zahlen erwartet als zuvor. Aber vielen Unternehmen sind kritische Rückfragen von Risikokapitalgesellschaften und anderen Finanzinvestoren immer noch lieber, als vor einem Initial Public Offering (IPO) von Bankanalysten auseinandergenommen zu werden. Zumal ein Börsengang auch noch mit höheren Kosten verbunden ist als eine weitere Finanzierungsrunde.
Die eigentlich für Juni erwartete Platzierung eines guten Teils der noch verbliebenen Staatsbeteiligung an Natwest wurde auf Eis gelegt. Begleitet von einer Kampagne, die sich an Kleinanleger richtet, hätte sie für bessere Stimmung am Markt sorgen können. Doch Premierminister Rishi Sunak setzte für den 4. Juli Neuwahlen an. Über den Umgang mit dem Restanteil an der ehemaligen Royal Bank of Scotland wird eine neue Regierung entscheiden. Irgendwann einmal, denn für Labour hat das keine Priorität.
Shein sucht Alternative zu New York
Nun kündigt sich ein IPO des chinesischen Einwegmodehändlers Shein an, der in New York nicht mehr ganz so willkommen ist. Aber die London Stock Exchange tut sich keinen Gefallen damit, Börsenplatz zweiter Wahl für Unternehmen aus der Volksrepublik und anderen Autokratien zu werden. Hinzu kommen Fragen zu Umwelt, soziale Fragen und Governance. Dagegen tritt die schiere Größe einer solchen Kapitalmaßnahme in den Hintergrund.
Auch der von Labour mithilfe von Beratern wie dem ehemaligen Notenbankchef Mark Carney angedachte Staatsfonds wäre keine große Hilfe. Denn es fehlt an Einnahmen, die in einen solchen Fonds fließen könnten. Anders als Norwegen, wo nach wie vor die Nordseeöl-Einnahmen sprudeln, setzt man in Großbritannien ja auf vermeintlich saubere Energie.
Hemmschuh Solvency II
Sinnvoller wäre ein stärkerer Rückbau der während der EU-Mitgliedschaft übernommenen Finanzregulierung, etwa wenn es darum geht, wie Versicherer ihr Geld anlegen müssen. Solvency II hält viele davon ab, in britische Wachstumsunternehmen zu investieren. Und wo es keine Anleger dafür gibt, gehen solche Firmen auch nicht an die Börse. Ein regulatorischer Unterbietungswettlauf mit der EU wäre allerdings das Letzte, was London voranbringen würde.
Es ist auch nicht sicher, dass Versicherer in britische Firmen investieren würden, wenn sie dürften. Denn das eigentliche Problem ist, dass es keine positive Perspektive für die Gesamtwirtschaft gibt. Sie hat zwar die Rezession überwunden. Doch hohe Zinsen, hohe Steuern und politische Ungewissheit regen nicht gerade zu Investitionen an.
Neue Geschäftsmodelle
Angst essen Börse auf? Die London Stock Exchange Group macht nur noch einen Bruchteil ihres Geschäfts mit Börsengängen. Kleine Firmen nutzen oft andere Plattformen wie Aquis Stock Exchange oder ISDX mit niedrigeren Anforderungen, um die Anleger anzuzapfen. Auch der Kassahandel findet schon lange auch bei anderen Anbietern statt. Daten, Derivate und Risikomanagement sind die Wachstumsfelder für die LSEG. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Vorstellungen davon, was eine Börse macht, zu überdenken.