Putin beschert Wirtschaft zehn Jahre Stagnation
Von Eduard Steiner, Moskau
Für Russlands Präsident Wladimir Putin lief gerade zur Zeit seines Aufstiegs als Kremlchef in den Nullerjahren alles fast wie am Schnürchen. Im Zuge des damaligen Rohstoffbooms kletterten die Preise, der Rohstoffstaat schwamm im Geld, die Wirtschaftsleistung, mitangekurbelt durch einen anfänglich reformfreudigen Putin, explodierte. Nun aber droht ein Jahrzehnt der Stagnation – Kraft und Willen für einen Ausbruch scheint Putin jetzt aber nicht mehr zu haben.
Fast eineinhalb Jahrzehnte später eilen die Rohstoffpreise wieder von einem Hoch zum nächsten. Bei Kupfer etwa wurde neulich ein Allzeithoch markiert. Bei Palladium ebenso. Bei Stahl ging vor der Mai-Korrektur monatelang die Post ab. Bei Aluminium reicht der Preis nah an das Hoch von 2008 heran. Bei all diesen Rohstoffen nimmt Russland als Produzent global einen der Top-Ränge ein. Die bedeutsamsten Sektoren freilich bleiben Öl, wo Russland weltweit zweitgrößter Exporteur hinter Saudi-Arabien ist, und Gas. Da die russische Regierung 2018 eine Spar-Regel eingeführt hat, wonach nur die Einnahmen aus dem Ölexport bis zu einer Grenze von 42,4 Dollar je Barrel für das Budget genutzt werden und der Rest in die Staatsreserven fließt, besteht bei einem aktuellen Ölpreis von über 70 Dollar kein Grund zur Sorge.
Es scheint rund zu laufen für Russland, das nach der Krim-Annexion 2014 in eine mehrjährige Wirtschaftskrise gestürzt war. Zumindest die äußeren Bedingungen haben sich aufgehellt. Allein, wie sehr Putin auch in den neuen Geldzuflüssen schwimmt: Der Wirtschaftsmotor will nicht mehr so richtig anspringen. Zwar werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Wirtschaftsministerium dieses und nächstes Jahr um etwa 3% zulegen, nachdem es 2020 aufgrund eines Verzichts auf Lockdowns mit –3% relativ glimpflich davongekommen ist.
Nun aber stehen zehn bis 15 Jahre der Stagnation bevor, wie eine Studie der renommierten Moskauer Higher School of Economics (HSE) vom April zeigt. Das jährliche Wachstum wird mit 1,4 bis 1,8% prognostiziert – für ein Schwellenland de facto eine Stagnation. Der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sinke. Dazu kämen die niedrige Produktivität und die vergleichsweise geringen Investitionen in Humankapital.
Bereits im Januar hat eine Reihe führender Wirtschaftsexperten mit einer Analyse für die Stiftung „Liberale Mission“ für Aufsehen gesorgt, da sie dem Land ein Jahrzehnt der Stagnation voraussagte. Der Kampf gegen die wiederholten Krisen würde nicht zu einer Veränderung der Wirtschaftsstruktur, sondern zu ihrer Einzementierung führen.
In Wirklichkeit befindet sich das rohstofflastige Russland bereits seit 2009 in der Stagnation. In der Rohstoffhausse vor der Finanzkrise betrug das Wachstum durchschnittlich etwa 7% pro Jahr, seither gerade noch 1%. Entgegen Putins Vorgabe ist der Abstand zur globalen Wirtschaft gestiegen. Und nun habe sich die Regierung damit abgefunden, dass sie eben in ein zweites Stagnationsjahrzehnt gehe, heißt es in der Analyse der „Liberalen Mission“. „Schuld ist das schlechte Investitionsklima“, sagt Sergej Gurijew, Mitautor der Studie und Professor an der Pariser Hochschule Sciences Po, zur Börsen-Zeitung. „Das Kapital flieht aus dem Land. Und der Staat investiert lieber in Staatskonzerne, Geheimdienst und Militär statt in Gesundheit und Bildung.“ Dazu kämen die ständigen Attacken auf Privatfirmen, wie soeben auf die Stahlkonzerne, die vom Vizepremier vehement zur Rückzahlung von 100 Mrd. Rubel (1,13 Mrd. Euro) an angeblich überhöhten Gewinnen aufgefordert wurden.
Der von Hardlinern gelenkte Staat hole sich einfach Geld, um Geopolitik wie in Weißrussland oder zweifelhafte Infrastrukturprojekte zu finanzieren, bei denen dann Putins engster Kreis mit Aufträgen bedient werde, sagt ein milliardenschwerer Tycoon, der anonym bleiben möchte, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Wenn ich an einem Tag eine Grube grabe und sie am nächsten Tag zuschütte, wächst die Wirtschaft formal auch.“
„Es sind die Repressionen, die inzwischen zum Hauptgrund für die Stagnation geworden sind“, meinte Konstantin Sonin, der an der University of Chicago und an der Moskauer HSE lehrt, kürzlich in einem Radiointerview. „Wenn Medien als ,ausländische Agenten‘ gebrandmarkt werden und weder Korruption noch andere Ineffizienzen aufdecken dürfen, funktioniert ein Hauptmechanismus für den Fortschritt nicht mehr.“
Es sei bezeichnend, dass Putin in seiner Rede zur Lage der Nation Ende April keinen Plan für Wirtschaftswachstum habe erkennen lassen, sagt Gurijew: Das Wachstum vor 2008 sei nur vom Ölpreis getrieben und daher politisch ungefährlich gewesen. „Um aber jetzt ein Wachstum und Investitionen zu stimulieren, bräuchte es einen entschlossenen Kampf gegen Korruption, mehr Konkurrenz auf dem Markt und unabhängige Gerichte. Und das würde Putins Machtsystem bedrohen.“
So scheint Russland in ein Jahrzehnt der Stagnation 2.0 zu gehen. Das sei freilich nicht gleichbedeutend mit einer Krise, so Gurijew. Denn die Zentralbank agiere kompetent, das Budget sei ausgeglichen und die internationalen Gold- und Währungsreserven mit 605,9 Mrd. Dollar so hoch wie nie. Zudem beträgt die Staatsverschuldung gerade einmal 19% des BIP.