LeitartikelDeutsche Wachstumsschwäche

Rettungsanker Produktivität

Der Abbau der Arbeitslosigkeit ging auf Kosten der Produktivität. Eine Investitionswelle muss ihr nun wieder auf die Sprünge helfen. Nur dadurch kann Deutschland noch den ökonomischen Abstieg vermeiden.

Rettungsanker Produktivität

Wachstumsschwäche

Rettungsanker Produktivität

Deutschland kann den ökonomischen Abstieg nur vermeiden, wenn die Produktivität wieder auf die Sprünge kommt. Die Politik setzt insofern falsche Prioritäten.

Von Stephan Lorz

Noch vor wenigen Jahren war unter den Ökonomen vom Produktivitätsrätsel die Rede. Die hohen Investitionen in die Digitalisierung schienen sich nicht in Wachstum umzusetzen. Aber es war wohl nur eine Frage des Reifegrades und der kritischen Masse dieser Technologie. Denn inzwischen wird das stetig höhere Wachstum in den USA und anderen „durchdigitalisierten“ Volkswirtschaften just auf jene Investitionen von damals zurückgeführt. Der Knoten scheint aufgegangen, nachdem sich Industrie, Behörden, Gesellschaft und Märkte digital neu geformt haben.

Europa und Deutschland haben das Nachsehen. Statt alles auf Digitalisierung und Automatisierung zu setzen, wird bis heute die Jobsicherheit ganz großgeschrieben – und auf Produktivität verzichtet. Die Gewerkschaften übten Lohnzurückhaltung, und der Staat gab reichlich Finanzhilfen während der Corona- und Energiekrise. Für Investitionen etwa in die Infrastruktur war kein Geld mehr da; Soziales hatte stets Vorrang. Nun fehlt es an wirtschaftlicher Perspektive, die Wettbewerbsfähigkeit liegt darnieder und das Wachstum ist schwach.

„Existentielle Herausforderung“

Der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi spricht im Zusammenhang mit der dramatischen technologischen Unwucht, die Europa von den USA trennt, in einem Report für die EU von einer „existenziellen Herausforderung“. Das scheint nicht übertrieben: Zwischen 1995 und 2019 stieg die Produktivität in den USA um 50%, in der EU nur um 28%. Und zwischen 2019 und 2024 waren es in den USA 6,7%, in der EU lediglich 0,9%. Auch in Deutschland schwächt sich die Produktivität ab: im Jahr 2000 wuchs sie noch um 1%, 2010 nur um 0,6%, und 2023 um vernachlässigbare 0,3%.

Ob die EU das mit massiven Ausgabenprogrammen drehen kann, wie sich das Brüssel anmaßt, ist zweifelhaft. Schon mit der „Lissabon-Strategie“ wollte sie Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten Raum machen. Erfolglos. Die F&E-Ausgaben sollten auf 3% der Wertschöpfung steigen. Das Ziel wurde mit 2,2% verfehlt; in den USA lagen sie bei 3,5%. Und dieses Geld wurde in den Staaten auch vorwiegend in moderne, digitale Industrien gesteckt – in künftiges Wachstum also.

Hohe digitale Rendite

Das wäre auch für Deutschland der richtige Weg gewesen, weil die Zahl der Beschäftigten wegen der demografischen Entwicklung wohl sinken wird. Realwachstum kann dann quasi nur noch über Produktivitätssteigerungen erwirtschaftet werden. Und entscheidend hierfür sind Investitionen in die Modernisierung, in neue Technologien, in Forschung & Entwicklung sowie in die Infrastruktur. Nur für Letzteres braucht man den Staat unmittelbar. Alles andere kann mit Steuervergünstigungen und Entbürokratisierung in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Auch in den USA waren es die privaten Investoren, welche die heutigen hochrentablen Digitalkonzerne geschaffen haben.

Unternehmen und Innovationen brauchen keine Industriepolitik oder staatliche Mikrosteuerung, sondern nur die richtigen Rahmenbedingungen, unternehmerische Freiheiten und leistungsfähige Kapitalmärkte. Und man sollte neue Technologien mit offenen Armen empfangen, statt Bedenkenträgern das Zepter zu überlassen. Die künstliche Intelligenz darf also nicht ebenfalls so kaputtreguliert und kaputtbürokratisiert werden, wie dies Datenschützer mit der Digitalisierung machen.

Kapitalabfluss stoppen

Um die Produktivität wieder nach oben zu hieven, könnte man sich obendrein einiges von anderen Ländern abschauen, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt: Nimmt man sich Japan zum Vorbild bei den Patenten, könnte das Wachstum um 8,5% zulegen, orientiert man sich bei der Digitalisierung an den USA, wäre es ein Plus von 10%. Zuallererst aber sollte man den Kapitalabfluss aus Deutschland stoppen. 2023 sind 250 Mrd. Euro „ausgewandert“. Es wäre die ureigenste Aufgabe einer Regierung, die Anreize so zu setzen, dass Investoren wieder Deutschland als Standort wählen – ganz ohne Subventionen. Vorschläge, wie man das bewerkstelligen kann, gibt es zuhauf in jedem Lehrbuch: Steuerreform, Abschreibungsregelungen und eine verlässliche, konstante Wirtschaftspolitik.


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