Schizophrenie der EZB-Geldpolitik
Gleich mehrere Déjà-vu-Erlebnisse in diesen Wochen. In den volkswirtschaftlichen Seminaren meiner Studienzeit vor 40 Jahren gab es zwei beherrschende Themen: Das eine war die Studie des Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“, die damals bei sensiblen Zeitgenossen eine ähnliche Endzeitstimmung auslöste wie heute die Klimakatastrophen-Vorhersagen von „Fridays for Future“ und anderen Organisationen. Damals wie heute gibt es darauf nur eine überzeugende Antwort: Wachstum und technologischer Fortschritt. Dann lässt sich bei wachsender Weltbevölkerung das Ausplündern unserer natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde vermeiden.
Wie vor 40 Jahren
Das andere zentrale Thema war der Ölpreisschock, ausgelöst 1973 vom Jom-Kippur-Krieg und 1980 dem Iran-Irak-Krieg, und eine damit in den führenden Wirtschaftsnationen einhergehende keynesianische Konjunktur- und Geldpolitik, die zu galoppierender Inflation führte. Die letztlich die Notenbanken zu einer radikalen Kursänderung zwang, allen voran der US-Notenbank unter Paul Volcker. Der Preis dieser notwendigen, aber viel zu späten Korrektur war eine schwere Rezession.
Auch heute erleben wir, wie Politik und Notenbanken auf die externen Schocks der Corona-Pandemie und des Kriegs Russlands gegen die Ukraine falsch reagieren. Damals wie heute bilden unerwartet hohe Inflation, durch Krieg beeinträchtigte Rohstoffversorgung, verlangsamtes Wirtschaftswachstum und Angst an den Märkten vor dem Ende ultraexpansiver Geldpolitik den unheilvollen Rahmen, aktuell ergänzt um eine überbordende Verschuldung.
Nach viel zu langem Zögern tritt die Fed mit der Leitzinserhöhung um 75 Basispunkte nun immerhin kräftig auf die Bremse und wird die künstlich durch Geld- und Fiskalpolitik erhitzte Wirtschaft demnächst noch stärker abkühlen. Ziel ist es laut Fed-Chef Jerome Powell, mit weiteren Zinsanhebungen und dem Rückbau der von Wertpapierkäufen aufgeblähten Notenbankbilanz den Realzins der Staatsanleihen über alle Laufzeiten hinweg wieder in den positiven Bereich zu drehen. Bei aktuell über 8% Inflation in den USA ein anspruchsvolles Ziel, das wohl nur mit einer Schocktherapie wie einst unter Paul Volcker zu erreichen sein dürfte.
Déjà-vu Eurokrise
Endlich wach geküsst scheint EZB-Präsidentin Christine Lagarde. Allerdings weniger von der inzwischen auch in der Eurozone hochschießenden Inflation, die fälschlicherweise von vielen in ihrem Fanclub immer noch als vorübergehend angesehen wird, sondern von der Reaktion der Märkte auf den überfälligen Kurswechsel. Die Flucht von Anlagekapital in den Dollar, wie sie sich im Kursverfall des Euro und besonders eklatant des Yen dokumentiert, treibt die Renditen von Staatsanleihen der Euro-Länder. Schizophrenie der gegenwärtigen europäischen Geldpolitik: Einerseits will auch die EZB die Inflation mit Zinserhöhungen bekämpfen, andererseits stark steigende Renditen vermeiden, um hoch verschuldeten Euro-Ländern das Leben zu erleichtern.
Damit bin ich beim nächsten Déjà-vu, der Rückkehr der Eurokrise. Die EZB provoziert sie geradezu, indem sie in gleichsam vorauseilendem Gehorsam ein neues geldpolitisches Instrument vorbereitet, um Euro-Staaten helfen zu können. Dabei hat niemand um Hilfe gerufen. Bisher. Aber der Aktionismus von Frau Lagarde mit der Sondersitzung des EZB-Rats am vergangenen Mittwoch knapp eine Woche nach der regulären Sitzung ist geradezu eine Aufforderung zum Rufen.
Die EZB unterstellt, dass ein Renditeanstieg bei europäischen Staatsanleihen wie bei italienischen auf 4% und mehr für das Land nicht verkraftbar wäre beziehungsweise den Transmissionsmechanismus der EZB-Geldpolitik stört. Doch weder das eine noch das andere trifft zu. Es ist nicht Aufgabe der EZB, Marktrenditen, in denen sich das unterschiedliche Risiko von Emittenten spiegelt, zu korrigieren. Dass für Staatspapiere Italiens bei 160% Staatsverschuldung dort gemessen am BIP an den Märkten in einem Umfeld steigender Zinsen eine andere Risikoprämie verlangt wird als für deutsche Staatsanleihen bei 70% Schuldenquote gemessen am BIP, ist ökonomisches Einmaleins. Es gehört nicht zum Auftrag der EZB, die Grundrechenarten oder die Logik der Märkte außer Kraft zu setzen. Die These, sich weitende Spreads in den Renditen europäischer Staatsanleihen würden den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik stören, ist absurd und weder theoretisch fundiert noch empirisch belegt.
In der vor 15 Jahren ausgebrochenen Eurokrise gab es wenigstens das Argument, dass dem unter ausfallgefährdeten Krediten (NPL, Non Performing Loans) ächzenden italienischen Bankensystem der Kollaps drohe und ohne funktionierende Banken die geldpolitischen Maßnahmen ins Leere liefen. Doch heute ist die Lage eine andere. Die italienische Bankenlandschaft ist konsolidiert, die Eigenkapitalquoten liegen mit 17% auf europäischem Durchschnitt, der Anteil notleidender Kredite an den Ausleihungen hat mit 5% das Niveau von vor 2008, und es gibt einen liquiden Markt für diese NPL.
Der Werkzeugkasten reicht
Welche Hybris treibt die EZB-Präsidentin um, dass sie glaubt, eine von demokratisch gewählten Regierungen verantwortete nationale Fiskalpolitik und deren Folgen durch europäische Geldpolitik korrigieren zu müssen? Haben Italiens Ministerpräsident Mario Draghi oder Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez die EZB etwa um Hilfe gebeten? Selbst wenn – die EZB ist nicht der Reparaturbetrieb fehlerhafter nationaler Politik. Ihr Mandat ist allein die Sicherung der Geldwertstabilität. Dazu braucht es keine neuen Instrumente. Mit den 2012 konzipierten Outright Monetary Transactions (OMT) steht ein – auch vom Bundesverfassungsgericht unter Auflagen akzeptiertes – Werkzeug zur Verfügung, um im Bedarfsfall Staatsanleihen einzelner Euro-Länder gezielt aufkaufen zu können.
c.doering@boersen-zeitung.de