„Europäische Insolvenzverordnung ist ein Meilenstein“
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Helmut Ki
Frau Tashiro, vor 20 Jahren ist die Europäische Insolvenzverordnung in Kraft getreten. Hat sie sich bewährt?
Die Europäische Insolvenzverordnung war und ist definitiv ein Meilenstein. Sie bildet seit ihrem Inkrafttreten am 31. Mai 2002 die gemeinsame Grundlage für grenzüberschreitende Insolvenzen in der EU und erleichtert solche Verfahren zweifellos – gerade, da sie eine grundlegende Rechtssicherheit schafft.
Was sind die Kernpunkte der Verordnung?
Die Europäische Insolvenzverordnung legt fest, dass Insolvenzverfahren, die innerhalb der EU eröffnet werden, automatisch im ganzen EU-Raum anerkannt sind, ohne dass es eine Gerichtsentscheidung zur Anerkennung braucht. Im zweiten Schritt sagt die Europäische Insolvenzverordnung, dass das nationale Insolvenzrecht des Landes, in dem das Verfahren eröffnet wurde, in der gesamten EU bei der Bearbeitung anwendbar ist. Entscheidend ist, dass das Insolvenzverfahren an dem Ort eröffnet wird, wo das Unternehmen seinen hauptsächlichen Interessen nachgeht – regelmäßig ist das der Sitz der Zentrale. Ein so eröffnetes Insolvenzverfahren sperrt die Eröffnung eines weiteren Verfahrens in einem anderen Land. Aber es gibt einige Sondersachverhalte wie beim Arbeitsrecht – dann gilt immer lokales Recht.
Welche Bedeutung haben die Regelungen für die europäische Wirtschaft?
Insolvenzen – gerade größerer Unternehmen – finden zumeist über Ländergrenzen hinweg statt. Es gibt viele Lieferbeziehungen quer durch Europa, Unternehmen haben Niederlassungen oder Vermögen in anderen Ländern. Überall dort ist die Europäische Insolvenzverordnung maßgebend.
Wo gibt es Schwächen und Mängel?
Vor rund fünf Jahren wurde die Europäische Insolvenzverordnung reformiert. Unter anderem wurden Regelungen für grenzüberschreitende Konzerninsolvenzverfahren und zur besseren Kompatibilität von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren neu aufgenommen.
Hat die Reform weitere Änderungen gebracht?
Es wurden einige Vorschriften zur Zuständigkeit des eröffnenden Gerichts ergänzt, um missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern – also den Versuch, den Sitz eines Unternehmens an einen insolvenzrechtlich günstigeren Ort zu verlegen und sich so einen Vorteil gegenüber den Gläubigern zu verschaffen.
Gilt die Verordnung auch für vorinsolvenzliche Restrukturierungen?
Ja, seit der Reform gilt die Europäische Insolvenzverordnung auch für eigenverwaltete und vorinsolvenzliche Verfahren, soweit solche in den nationalen Rechtsordnungen vorgesehen sind. Zudem hat eine weitere europäische Richtlinie über einen präventiven Restrukturierungsrahmen aus dem Jahr 2019 den Mitgliedstaaten aufgetragen, Restrukturierungsverfahren zu schaffen, die ein förmliches Insolvenzverfahren vermeiden. Deutschland hat dies zum 1. Januar 2021 mit dem StaRUG umgesetzt. Anders als in Insolvenzverfahren ist die EU-weite Anerkennung von StaRUG-Restrukturierungen aber noch nicht in Kraft.
Was bedeutet das für deutsche Unternehmen?
Sie haben bis dato keine Rechtssicherheit, dass sie eine in Deutschland erreichte Gestaltung von Gläubigerrechten im Rahmen des StaRUG auch gegen Gläubiger oder verbundene Gesellschaften in anderen Mitgliedstaaten durchsetzen können. Zum 17. Juli 2022 wird sich das ändern.
Die Regeln des Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes könnten dann EU-weit angewandt werden?
Ja, dann sind öffentliche präventive Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG als Insolvenzverfahren im Sinne der Europäischen Insolvenzverordnung qualifiziert. In der Konsequenz unterfallen StaRUG-Verfahren dann auch dem am Anfang beschriebenen Mechanismus der Europäischen Insolvenzverordnung aus automatischer Anerkennung und Anwendung des Rechts des Eröffnungsstaates. Das ist gerade für die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung.
Dr. Annerose Tashiro leitet die Internationale Abteilung für Insolvenzrecht bei Schultze & Braun.
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