Insolvenzen

Aufschwung als Herausforderung

Die befürchtete Insolvenzwelle ist dank staatlicher Hilfen bislang ausgeblieben. Nun stehen die Zeichen auf Aufschwung. Das wird für angeschlagene Unternehmen zur Herausforderung, muss das Hochfahren der Produktion doch auch finanziert werden. Womöglich gibt das dem neuen Sanierungsrecht unfreiwillig Starthilfe.

Aufschwung als Herausforderung

Von Annette Becker, Düsseldorf

Gehen uns die Pleiten aus? Diese Frage wurde schon vor Jahren angesichts des nicht enden wollenden Wirtschaftsaufschwungs und der damit Jahr für Jahr sinkenden Insolvenzzahlen gestellt. Doch auch die Pandemie, die dem Boom 2020 ein jähes Ende setzte, hat daran nichts geändert – zumindest bislang nicht. Im Gegenteil: Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa ging die Zahl der Firmenpleiten nach Daten der Wirtschaftsauskunftei Creditreform im vorigen Jahr um mehr als ein Viertel zurück. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2020 hierzulande keine 16 000 Insolvenzen gezählt, ein Rückgang um 15 %.

Grund dafür waren die umfangreichen staatlichen Maßnahmen – angefangen beim Aussetzen der Insolvenzantragspflicht, über Kredit- und Eigenkapitalhilfen bis hin zu Zuschüssen. Bislang ging diese Rechnung auf. Doch obwohl sich der Trend im bisherigen Jahresverlauf fortsetzt und die konjunkturelle Erholung an Kraft gewinnt, warnen viele Stimmen vor dem dicken Ende.

Von einer Pleitewelle, die praktisch mit Beginn des ersten Lockdown im vorigen März befürchtet wurde, redet heute allerdings kaum noch jemand. „Wir rechnen nicht mit einer Insolvenzwelle, sondern mit einer Normalisierung der Insolvenzzahlen“, sagt Managing Director Rainer Bizenberger. Dabei waren es insbesondere die Sanierungsberater, die mit Blick auf die Folgen der Pandemie darauf drängten, das Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen – kurz StaRUG – zügig einzuführen. Nur so werde den Unternehmen eine Alternative zur Insolvenz gegeben.

Berührungsängste

Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes ist die anfängliche Euphorie verpufft. Bislang haben nur etwa zwei Handvoll Unternehmen von der Möglichkeit der außerinsolvenzlichen Restrukturierung Ge­brauch gemacht. Konkrete Zahlen gibt es mangels Transparenzverpflichtung nicht. Das war allerdings auch gewollt, sollte sich die rein auf die Finanzgläubiger ausgerichtet Sanierung doch jenseits der Öffentlichkeit abspielen, um die mit Insolvenzen verbundene Stigmatisierung zu vermeiden.

„Es gibt noch Berührungsängste mit dem neuen Sanierungsinstrument“, weiß Bizenberger und räumt ein, dass die Erwartungen vielleicht auch etwas zu hochgeschraubt waren. Dennoch sind die Experten überzeugt, dass das StaRUG seine Berechtigung hat, zumal es für eine Bewertung noch viel zu früh ist. „Es ist eine Erweiterung des Instrumentenkastens“, ergänzt Patrick Widmaier, ebenfalls Managing Director bei Alix Partners.

„Ungutes Gefühl“

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Notwendigkeit zur Sanierung – ob innerhalb oder außerhalb der Insolvenzordnung – durch die staatlichen Hilfen wegfinanziert wurde. „Am Sanierungsmarkt herrscht gespenstische Ruhe“, umschreibt Tillmann Peeters von der Sanierungsberatung Falkensteg das ungute Gefühl, das sich unter den Sanierern und Insolvenzverwaltern breitgemacht hat. Denn die staatlichen Hilfen halten Unternehmen vielfach künstlich am Leben und verhindern die natürliche Auslese.

Unter den Hilfsmaßnahmen, bis Mitte Juni dieses Jahres gab der Staat knapp 140 Mrd. Euro dafür aus (siehe Grafik), ist das neuerdings bis Ende September verlängerte Kurzarbeitergeld besonders kritisch zu sehen. „Das Kurzarbeitergeld trägt dazu bei, Anpassungsprozesse aufzuschieben“, sagt Widmaier. Waren vor Corona im Schnitt etwa 200 000 Be­schäftigte in Kurzarbeit, sind es derzeit noch immer 2,6 Millionen Menschen. In der Spitze waren es im vorigen Jahr sechs Millionen Er­werbstätige.

Nicht zuletzt coronabedingt haben sich Digitalisierungsprozesse in den Unternehmen beschleunigt und zu Personalüberhang geführt. Dieses Rad wird nach der Pandemie nicht zurückgedreht. „Die staatlichen Hilfen waren zu Beginn der Krise absolut notwendig und richtig. Je länger sie fortgeführt werden, desto stärker lassen sich die Unternehmen jedoch vom Handeln abhalten“, warnt der Fachmann.

Ähnlich sieht es bei den direkten Liquiditätshilfen aus, die auf Dauer kritisch zu sehen sind. „Jetzt droht der Unterstützungskater“, sagt Bizen­berger. Zum einen betrifft das die öffentlichen Haushalte und zum anderen die Unternehmen, die sich auf staatliche Unterstützung verlassen. Das spiegelt sich nach Einschätzung von Peeters auch in der Zahl der Großinsolvenzen, also Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 20 Mill. Euro. Allein im ersten Quartal dieses Jahres ging deren Zahl im Vergleich zum Vorquartal abermals um fast 60 % zurück. „Den Banken wurde lange vorgeworfen, sie sozialisierten ihre Verluste, das darf man heute den Unternehmen bescheinigen“, formuliert Peeters.

Schuldentragfähigkeit

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Konjunktur nach dem schwersten Einbruch der Nachkriegsgeschichte in rasantem Tempo zu erholen beginnt. So geht die Bundesbank beispielsweise davon aus, dass Deutschland schon in diesem Sommer das Vorkrisenniveau erreicht, für 2022 wird gar mit einem BIP-Wachstum von 5,2 % gerechnet – alles andere als ein Grund zum Jammern. Allerdings muss der Aufschwung auch finanziert werden. „In manchen Branchen treten erst beim Hochfahren Probleme auf“, weiß Bizenberger. Denn dann gerät die Schuldentragfähigkeit in den Blick.

Vielfach sind angeschlagene Unternehmen, die die Krise nur dank staatlicher Liquiditätshilfen überlebt haben, nicht in der Lage, finanziell in Vorleistung zu gehen, um den Aufschwung zu finanzieren. Eine maßgebliche Rolle kommt in diesem Zusammenhang den Kreditversicherern zu, denen die Bundesregierung eine Haftungsgarantie bis 30 Mrd. Euro gegeben hatte. Im Gegenzug führten die Versicherer knapp 60 % der Beitragseinnahmen ab.

Da großflächige Schäden jedoch ausgeblieben sind, will die Branche zurück zur Normalität, wenn der im Dezember erneuerte und leicht modifizierte Schutzschirm Ende Juni ausläuft. „Was danach kommt weiß niemand. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Kreditversicherer die Linien für ganze Branchen streichen. Umgekehrt lassen sie Risiken aber auch nicht unberücksichtigt“, gibt Peeters zu bedenken.

Zwar haben sich weite Teile der Industrie von der Krise schneller als erwartet erholt, über den Berg sind manche Branchen jedoch noch nicht. Gerade bei den Automobilzulieferern sei das Feld noch längst nicht bereinigt, glaubt Bizenberger. Vergleichbares trifft auch auf den stationären Einzelhandel, allen voran den Modehandel, und die Touristik zu.

Corona und die staatlichen Hilfen haben die Strukturprobleme in diesen Branchen nur überdeckt, aber nicht gelöst. Auch aus diesem Grund dürfte es für eine erste Bewertung des StaRUG zu früh sein, könnte das Ende der staatlichen Stützungsmaßnahmen zusammen mit dem Aufschwung dem neuen Restrukturierungsinstrument doch unfreiwillig Starthilfe geben. Denn erst wenn der Aufschwung da ist, zeigt sich, welche Unternehmen die Krise tatsächlich gemeistert haben.