„ESG muss in alle Unternehmensprozesse“
Von Sabine Wadewitz, Frankfurt
Professionalisierung und Zusammensetzung von Aufsichtsräten ist in den vergangenen Jahren verstärkt zum Thema der Corporate Governance geworden. Wurden zunächst Finanzwissen und Digitalexpertise als Ergänzung zu unternehmerischer Kompetenz gesucht, geht es inzwischen auch um Verfügbarkeit von ESG-Know-how in den Gremien. Dabei besteht noch keine Einigkeit, ob ESG-Ausschüsse gebildet werden oder ob sich alle Aufsichtsratsmitglieder mehr oder weniger intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auskennen sollten.
Mehr Durchsetzungskraft
Für den Unternehmensberater Michael Kramarsch, Managing Partner der HKP Group, sollte das Thema Nachhaltigkeit viel breiter und mit mehr Durchsetzungskraft in den Aufsichtsräten verankert werden. „ESG muss in alle Unternehmensprozesse. Damit betrifft es den Aufsichtsrat in unterschiedlichsten Kompetenzen“, sagt Kramarsch. So sei der Prüfungsausschuss über die ESG-Berichtspflichten involviert, Nachhaltigkeit betreffe die strategische Ausrichtung des Unternehmens, spiele eine Rolle bei Akquisitionen genauso wie bei der Vorstandsbesetzung und -vergütung. „Es geht um alle Aspekte der Aufsichtsratsarbeit, doch um dieses Selbstverständnis ringen viele Unternehmen noch“, fasst er das Szenario zusammen.
Der Nachhaltigkeitsanspruch tangiert aus Sicht von Kramarsch auch die Gewaltenteilung in der Corporate Governance. „Mit ESG verbreitert sich nicht nur das Themenspektrum des Aufsichtsrats, sein Fokus richtet sich stärker auf die operative Steuerung des Unternehmens“, meint der Berater. Das verschaffe den Gremienmitgliedern „Einfluss in Themenbereichen, in denen sie bislang nicht gespielt haben“.
Größeres Spielfeld
Dass der Aufsichtsrat ein größeres Spielfeld bekommt, bringt es aus Sicht von Kramarsch nicht zwangsläufig mit sich, dass er stärker direkt ins Unternehmen hineinregiert. „Es braucht keinen zweiten Vorstand.“ Der Aufsichtsrat steuere Nachhaltigkeitsaspekte weiterhin über die oberste Führungsriege. Als Beispiel nennt er die Verankerung von ESG-Zielen in der Vorstandsvergütung. Das löse Berichtspflichten aus. Zudem wolle hier kein Vorstand für Zielverfehlungen am Pranger stehen. „Das Mini-Thema Vorstandsvergütung trägt dazu bei, im Unternehmen ESG-Systeme zu installieren“, erklärt Kramarsch. Dieser Prozess vollziehe sich auf Initiative des Aufsichtsrats auch in anderen ESG-Anforderungen.
Im Thema ESG braucht es nach Einschätzung des Beraters noch mehr unternehmensspezifische Kompetenz im Aufsichtsrat. Das lasse sich zum Beispiel in der Konzeption der Vergütungssysteme erkennen. Dort würden zwar ESG-Ziele mit durchaus akzeptablen Gewichtungen verankert. Doch in den Nachhaltigkeitszielen finde man bei genauem Hinsehen derzeit noch nicht die Dinge, die materiell relevant für die einzelnen Geschäftsmodelle seien. Umweltziele zu incentivieren, sei sicher für viele Konzerne sinnvoll, oftmals würden aber auch allgemeine Themen wie Mitarbeiterzufriedenheit belohnt. ESG-Ziele in der Vorstandsvergütung müssten viel individueller auf das jeweilige Unternehmen zugeschnitten werden, unterlegt mit historischen Daten. „Da ist noch ein großer Schritt zu gehen“, sagt Kramarsch.
Noch zu wenig adressiert wird aus Sicht des Beraters das „S“ im ESG-Kontext. Die sozialen Nachhaltigkeitsziele erforderten Human-Resources-Kompetenz im Aufsichtsrat. Das Thema „Social“ sei viel schwieriger zu fassen als das Thema „Environment“, weil es vielschichtiger sei, räumt er ein. „Es hat wertunterstützende Elemente genauso wie risikomitigierende Effekte.“ Das sei in kaum einem Unternehmen ausreichend verankert. „Wenn man sich die Personalberichterstattung der Unternehmen anschaut, ist es beliebig, welche Kennzahlen herangezogen werden. Da findet sich oft wenig Standardisierung und Kontinuität“, moniert er.
Die Risiken für Unternehmen aus einer unzureichenden Berücksichtigung sozialer Belange hält er für gravierend. Das reiche von Gender Pay Gap bis zu Lieferketten und Menschenrechten. Es gehe um technologische Transformation, was im Kern Workforce-Transformation bedeute. Angeboten werden müssten neue Karrierewege, Qualifikationsmaßnahmen und Organisationsmodelle. „Da erwarten die Investoren mehr Informationen und sichtbares Engagement auch in Aufsichtsräten“, mahnt er.
Druck gibt es nach den Worten von Kramarsch mit Blick auf die HR-Kompetenz im Aufsichtsrat auch durch neue Berichtspflichten. Die bislang im Entwurf vorliegenden europäischen Standards für das ESG-Reporting verlangten ein Bündel an HR-orientierten Kennzahlen. „Damit kommt es zum Schulterschluss zwischen Mitbestimmung und Investoren.“
Unternehmen mit höherem Organisationsgrad der Arbeitnehmer hätten „Vorteile auf der Sozialskala“, wenn es um Dinge wie Arbeitssicherheit oder gerechte Entgeltstrukturen gehe. „Diese Themen werden über die Arbeitnehmerseite in der Mitbestimmung stark befördert.“ Der Aufsichtsrat werde auch in diesen Nachhaltigkeitsthemen den Investoren Rede und Antwort stehen müssen. Auch hier werde die Diskussion über Generalisierung vs. Spezialisierung in den Gremien aufflammen. Für Kramarsch steht die Antwort fest: „Wenn ich Nachhaltigkeit ernst nehme, kann es ein Ausschuss nicht stemmen, dann sind alle im Aufsichtsrat gefordert.“
Auf der Reise
In der Besetzung der Kontrollgremien der Unternehmen hierzulande sieht der Berater die Aufsichtsräte „auf einer Reise“. Es gebe „mehr Themen, mehr Sitzungen, das Risiko ist exponierter“. „Es wird im Aufsichtsrat T-Profile brauchen – einen tiefen inhaltlichen Anker und trotzdem in der Breite unternehmerische Kompetenz“, sagt Kramarsch voraus. Investoren bräuchten in der ESG-Vielfalt für alle Nachhaltigkeitsthemen jemanden im Aufsichtsrat, „der gesprächsbereit ist“.