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Mehr Fokus auf AI als ESG-Bürokratie

In ESG-Themen sehen sich Aufsichtsräte von einer Überregulierung belastet. Ressourcen werden für Digitalisierung und AI dringend gebraucht.

Mehr Fokus auf AI als ESG-Bürokratie

Ansichtssache

Mehr Fokus auf AI als ESG-Bürokratie

Von Daniela Favoccia

Der Vorwurf, dass sich Unternehmen heutzutage nicht für Umwelt-, Sozial- und Governance-Fragen (ESG) interessieren, ist unbegründet. Das Gegenteil ist richtig. Auf der Agenda der Aufsichtsräte, dem höchsten Kontrollgremium im Unternehmen, steht ESG an erster Stelle; selbst disruptive Themen wie die Digitalisierung, die weiterhin massive Auswirkungen auf viele Geschäftsmodelle hat, sowie geopolitische Unsicherheiten stehen in der Priorität der Aufsichtsräte hinter ESG, wie die aktuelle Aufsichtsratsstudie von Hengeler Mueller und dem Arbeitskreises Deutscher Aufsichtsrat (AdAR e.V.) zeigt.

Zentrale Themen

Mit überwältigenden 90% betrachten die meisten der von uns befragten Aufsichtsräte ESG-Kriterien und die Nachhaltigkeitstransformation als die zentralen Themen auf ihrer Agenda. Die Bedeutung spiegelt sich auch in den gewünschten Qualifikationen für zukünftige Aufsichtsräte wider. Hier stehen Nachhaltigkeitsaspekte mit 60%-Zustimmung an zweiter Stelle im Anforderungsranking. Der Aufsichtsrat rüstet hier dauerhaft nach.

Wo diskutiert der Aufsichtsrat ESG-Themen? Während ESG bei der Mehrheit der nicht börsennotierten Unternehmen in keinem bestimmten Ausschuss verankert ist, ist bei börsennotierten Unternehmen die Verantwortung dafür eindeutiger verortet. Bei 30% liegt sie im Auditausschuss und 18% haben sogar einen eigenen Nachhaltigkeitsausschuss.

Im Kompetenzbereich

Eine andere Studie, die Hengeler Mueller dieses Jahr mit dem Deutschen Aktieninstitut (DAI) vorgelegt hat, zeigt ebenfalls, dass die Aufsichtsräte in ihrem Kompetenzbereich gehandelt haben: Die Mehrheit der befragten Unternehmen hat ESG-Ziele, und hier vorrangig klimarelevante Maßnahmen, in die Vorstandsvergütung integriert (rund 70% bei den Long Term Incentives und knapp 60% bei den Short Term Incentives). Die ESG-Performance macht sich also direkt über die Vorstandsvergütung bezahlt. Diese Beispiele belegen anschaulich, dass sich die Unternehmen Top Down dem Thema ESG große Aufmerksamkeit widmen, sich eingehend damit befassen, es auch strukturell verankert haben. Doch die Unternehmen kämpfen mit dem praxisfeindlichen Alltag: der wenig zielführenden und frustrierenden Reporting-Bürokratie. Fast alle Befragten (94%) sehen die Granularität des Reporting als Herausforderung bei der Implementierung. Diese verbraucht erhebliche Unternehmensressourcen.

Eingeschränkter Nutzen

Führt der Aufwand wenigstens zu einem Nutzen? Die Befragten sehen ihn jedenfalls nicht: 84% bewerten das Verhältnis von Aufwand zum Nutzen bei den in der Berichterstattung geforderten Angaben zu grünen Umsatzerlösen, Capex und Opex als negativ. Die Unternehmen beklagen mehrheitlich den eingeschränkten Nutzen der Berichterstattung für Banken und Investoren, die noch nicht vorhandene Best Practice bei Wirtschaftsprüfern, die Unklarheiten durch unbestimmte Rechtsbegriffe sowie die Widersprüchlichkeiten zu anderen (EU-) Regelwerken und einiges mehr.

Selten wurde deutlicher, wie eine fehlgeleitete Regulierung unnötige Ressourcen verbraucht. Warum nicht eine individuellere Berichterstattung zulassen, die auch stärker den Besonderheiten des jeweiligen Geschäftsbetriebs Rechnung trägt? Die Sanktionierung von Greenwashing auf der einen Seite und der Wettbewerbsdruck, sich entsprechend zu positionieren auf der anderen Seite, werden hinreichend dafür sorgen, dass sich die Berichterstattung auskalibriert und sich eine marktgerechte Best Practice durchsetzt, die auch der gesellschaftlichen Verantwortung voll gerecht wird.

Die freiwerdenden Ressourcen werden bei Digitalisierung und AI dringend gebraucht. Unsere diesjährige Aufsichtsratsstudie zeigt deutlich, dass die rasante Entwicklung digitaler Technologien und die zunehmende Integration von Artifical Intelligence in allen Bereichen unternehmerischen Handelns die Arbeit und Zusammensetzung der Aufsichtsräte in der näheren Zukunft revolutionieren wird.

Kein Nachteil für Stakeholder

So stehen die Themen Digitalisierung und AI im Ranking der Themen auf der Aufsichtsrats-Agenda zwar noch hinter dem Thema Nachhaltigkeit (ESG), aber für die künftige Zusammensetzung des Aufsichtsrats werden Kenntnisse im Bereich Digitalisierung und AI vor den Nachhaltigkeitsaspekten mit Abstand an erster Stelle vor den Nachhaltigkeitsaspekten genannt. Während im Bereich der Nachhaltigkeit bereits in den letzten Jahren zunehmend, nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit des europäischen und deutschen Gesetzgebers und der Anforderungen durch den Deutschen Corporate Governance Kodex und der Stimmrechtsberater daran gearbeitet wurde, die notwendige Qualifikation für Nachhaltigkeitsaspekte schrittweise aufzubauen, ist dies im Bereich der Digitalexpertise noch nicht im vergleichbaren Umfang geschehen und wird diesem Aspekt in unserer Aufsichtsratsstudie folgerichtig die größte Bedeutung für die Zusammensetzung in der Zukunft beigemessen.

Die Ergebnisse zeigen einmal mehr: Die Ressourcen der Unternehmen wären auf allen Ebenen statt für die Abarbeitung der ESG-Bürokratie, viel besser für die nach vorne schauende Ausrichtung auf AI und Digitalisierung investiert. Die Aufsichtsräte haben dies erkannt. Ein echter Nachteil für die Stakeholder ist dabei nicht zu erkennen.

Dr. Daniela Favoccia ist Partnerin bei Hengeler Mueller, Aufsichtsrätin und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.

Selten wurde deutlicher, wie eine fehlgeleitete Regulierung unnötige Ressourcen verbraucht.

Dr. Daniela Favoccia ist Partnerin bei Hengeler Mueller, Aufsichtsrätin und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.