Start-ups

Mehr Wagnis­kapital denn je

Jungunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben allein im ersten Halbjahr 8 Mrd. Euro Wagniskapital bei Investoren eingesammelt. Die Investmentbank Clipperton erwartet eine neue IPO-Welle.

Mehr Wagnis­kapital denn je

cru Frankfurt – Nie zuvor hat es im Technologiesektor des deutschsprachigen Raums so viele Transaktionen gegeben wie in der ersten Hälfte dieses Jahres. Die Kurse der Technologieaktien sind nach den Angaben auf ein Allzeithoch gestiegen, die Bewertungen haben sich seit 2019 fast verdoppelt, wie aus dem „DACH Technology Market Monitor“ der auf Tech-Deals spezialisierten Investmentbank Clipperton hervorgeht. Die Wachstumskapitalfinanzierung hat demnach in 579 Deals schon in der ersten Jahreshälfte 2021 ein noch nie dagewesenes Hoch von 8 Mrd. Euro erreicht – doppelt so viel wie im gesamten Vorjahr.

Angetrieben durch einen „sehr dynamischen Markt für Börsengänge“ – mit IPOs wie dem des Online-Gebrauchtwagenhändlers Auto1, des Linux-Softwareanbieters Suse und des Online-Modehändlers About You – sowie durch vermehrte Fusionen und Übernahmen ist das Volumen der Exits auf 12,6 Mrd. Euro angestiegen. Gleichzeitig kauften strategische Investoren für 6,4 Mrd. Euro Tech-Firmen im deutschsprachigen Raum.

In den ersten drei Quartalen 2021 wurden durch Finanzierungsrunden in der Technologiebranche 19 Einhörner geschaffen – also Jungunternehmen mit einer Milliardenbewertung –, wodurch sich die Zahl der Unicorns im deutschsprachigen Raum auf 43 verdoppelt hat, eine Entwicklung, die sich insbesondere seit 2017 deutlich beschleunigt hat. Zum Vergleich: Weltweit zählt CB Insights mehr als 800 Einhörner. Davon stammen rund 5% aus dem deutschsprachigen Raum. Darunter sind inzwischen weniger E-Commerce-Firmen wie Gorillas, Berlin Brands Group und Razor Group und dafür umso mehr Fintechs wie N26, Wefox und Deposit Solutions. Ebenfalls deutlich zugenommen hat das Gewicht der Software-as-a-Service-Einhörner wie Signavio, Adjust und Personio. Im europäischen Vergleich liegt der deutschsprachige Raum nun hinter Großbritannien mit 91 Einhörnern und vor Frankreich mit 17 Einhörnern. Noch stärker sind nur China (165) und die USA (423).

135 Mrd. Euro Gesamtwert

Insgesamt werden die Einhörner im deutschsprachigen Raum mit 135 Mrd. Euro bewertet. Das entspricht 3% des gesamten hiesigen Aktienmarkts. „All dies unterstreicht die Stärke des hiesigen Ökosystems sowie den Rückenwind, der von den allgemeinen Markttrends ausgeht“, konstatiert Clipperton-Partner Nikolas Westphal. Als „besonders vielversprechende“ Tech-Firmen benennt Clipperton NAIX, Anbieter einer Softwareplattform für die automatisierte Anonymisierung von umfassenden Datensätzen, sowie den Bildungstechnologie-Spezialisten Sofatutor und die Public Cloud Group, Anbieter einer Public-Cloud-Plattform für den deutschen Mittelstand.

Laut Clipperton waren 43% aller Wagniskapitalfinanzierungen im ersten Halbjahr auf Software und Rechenkapazitäten im Internet (Cloud) ausgerichtet – und damit hat dieser Sektor seit 2020 die Bereiche E-Commerce und Internet-Marktplätze überholt.

Auf Basis der Daten von Pitchbook und Crunchbase, die Clipperton auswertet, ist das Venture-Capital-Volumen seit 2015 – mit Ausnahme des Coronajahrs 2020 – kontinuierlich gestiegen. Die Durchschnittsgröße einer Finanzierungsrunde kletterte zuletzt von 11 Mill. auf 14 Mill. Euro. Vor allem besonders große Mega-Finanzierungsrunden von mehr als 100 Mill. Euro treiben jedoch das Gesamtvolumen nach oben – davon gab es 19 im ersten Halbjahr mit einem addierten Volumen von 4,8 Mrd. Euro fast doppelt so viel wie im bisherigen Spitzenjahr 2019 für die Mega-Deals.

Tech-Hausse als Treiber

Basis für den Wagniskapital-Boom ist die Aktienmarkt-Hausse der Tech-Werte: Der Nasdaq-Index ist zwischen Januar 2019 und September 2021 um 118% gestiegen – im Vergleich zum S&P 500 mit einem Plus von 72%. Auch im deutschsprachigen Raum haben Tech-Aktien im selben Zeitraum mit einem Plus von 94% deutlich stärker zugelegt als der Gesamtmarkt mit 47% – wenngleich etwas schwächer als in den USA, weil der deutsche Marktführer SAP mit seiner Quartalsbilanz enttäuschte.

Seither bewegen sich die Kurse zwar seitwärts. „Aber wir erwarten eine neue Welle von Börsengängen, sobald sich die Kapitalmärkte wieder stabilisieren“, sagt Clipperton-Partner Westphal voraus. Kein Wunder: Im ersten Halbjahr gab es in Deutschland mit den Mega-Finanzierungsrunden für Start-ups wie die Softwarefirma Celonis, die Schnelllieferdienste Gorillas sowie Flink und den Online-Broker Wefox so viele große Deals wie nirgends sonst in Europa mit Ausnahme von Schweden. Weitere Beispiele waren der Digital-Logistiker Forto und der Personal-Software-Anbieter Personio.

Vor allem der Anteil der Fintech-Unternehmen an den Wagniskapitalfinanzierungen legte von 17% auf 32% zu. Ausschlaggebend dafür waren besonders große Finanzierungsrunden wie die vom Online-Broker Trade Republic, dem Insurtech Wefox und dem ETF-Broker Scalable Capital. Innerhalb des Fintech-Sektors setzt sich damit das Segment Wealthtech an die Spitze. Deutlich geringere Anteile erhielten E-Commerce samt Internet-Marktplätzen mit 15% sowie digitale Medien inklusive Sport-Apps wie One Football und Urban Sports Club mit 6%. Gesundheitstechnologiefirmen wie Ada Health, Avi Medical und Wellster Healthtech Group vereinten nur 3% auf sich.

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