Unruhige Monate an den Strombörsen
Von Alex Wehnert, Frankfurt
Europas Stromhändlern stehen unruhige Monate bevor. Denn eine Eigenheit des Terminmarkts, deren Risiken bereits in den ersten Jahresmonaten offenbar wurden, könnte bei einer weiteren Eskalation im Konflikt zwischen Russland und dem Westen für einige von ihnen zum Fallstrick werden.
Enorme Nachschusspflichten
Die Gefahr rührt daher, dass Unternehmen, die über den Terminmarkt Strom und Gas verkaufen, dafür Sicherheitsleistungen in Form von Liquidität hinterlegen müssen. Durch diese sogenannte Margin soll sichergestellt werden, dass die Anbieter auch wirklich liefern können und die Risiken reduziert werden, die durch den möglichen Default eines Marktteilnehmers für die Funktionalität des Handels entstehen. Wenn sich das Preisdifferential zwischen dem Spot- und dem Terminmarkt wie zuletzt aber extrem ausweitet, zieht dies für die Stromhändler enorme Nachschusspflichten nach sich. Bei Lieferung erhalten sie das Geld zwar zurück, gerade die hohe Volatilität zwingt die Energieerzeuger aber, stärkere Liquiditätspolster anzulegen.
„Starke Preisschwankungen führen naturgemäß zu einem temporär großen Liquiditätsbedarf“, heißt es bei RWE. „Wir haben hierfür durch unsere Kreditlinien und weitere Finanzierungsinstrumente Vorsorge getroffen.“ Uniper teilte indes bereits im Januar mit, die damals bestehenden Kreditfazilitäten von 1,8 Mrd. Euro seien ausgeschöpft. Die Düsseldorfer sicherten sich daher neue Kreditlinien im Volumen von insgesamt 10 Mrd. Euro.
Die Stromnotierungen haben infolge des Ukraine-Kriegs und der Sorge vor dem Stopp russischer Energielieferungen an den Westen weitere Anstiege unter starken Schwankungen durchgemacht. Belief sich der Preis für Strom zur deutschen Grundlastversorgung zum Zeitpunkt der Uniper-Ankündigung noch auf gut 194 Euro pro Megawattstunde, schoss er in den ersten Jahresmonaten in die Höhe und markierte Anfang März mit über 487 Euro pro Megawattstunde ein Rekordhoch. Am gleichen Tag sprang der Preis für Erdgas im niederländischen Handelspunkt TTF auf das bis dahin unvorstellbare Niveau von 335 Euro pro Megawattstunde. Letzteres ist für Stromhändler aufgrund des „Merit Order“-Systems an der Strombörse relevant. In dessen Zuge wird für den nächsten Tag zunächst das Angebot der günstigsten Kraftwerke, zum Beispiel der mit Braunkohle betriebenen, versteigert. Decken diese den Bedarf nicht ab, kommen nach und nach die teureren Kraftwerke hinzu, so auch die erdgasbetriebenen. Am Ende bekommt im Rahmen des Systems jeder Anbieter den Preis des teuersten Kraftwerks, was angesichts der Preisexplosionen bei Erdgas auch die Stromnotierungen anziehen lässt.
„Ein vorzeitiger, plötzlicher Importstopp von Gas und Öl aus Russland wird den Markt noch einmal besonders unter Druck setzen“, warnt Barbara Lempp, Chief Operating Officer der European Federation of Energy Traders (Efet). Schon jetzt sei die Liquidität im Vergleich zu den Vorjahren recht gering. Dieser Effekt werde sich dann noch einmal verstärken. „Es ist daher wichtig, dass bis zu einem Lieferstopp noch möglichst viel Zeit für eine ungestörte Befüllung der Gasspeicherreserven gegeben ist“, betont Lempp.
Plädoyer für Bankgarantien
Angesichts des unberechenbaren politischen Umfelds hält sich aber die Befürchtung, dass der Markt zusammenbricht. „Die aktuell erforderlichen Sicherheitsleistungen, die Händler als Direktzahlung bei den Börsen für Termingeschäfte hinterlegen müssen, haben mittlerweile eine Verzehnfachung im Vergleich zum Vorkrisenzeitraum erfahren“, sagt Lempp. „Wenn es jetzt noch einmal zu einem Preissprung kommt, können diese enormen Summen trotz der Robustheit und Gesundheit der Unternehmen nicht mehr geleistet werden.“ Aus diesem Grund plädiert Efet dafür, dass die Clearingbanken, die Sicherheiten von den Unternehmen einsammeln, im Falle eines Zahlungsausfalls eines Marktteilnehmers Bankgarantien der Zentralbanken in Anspruch nehmen können. Dadurch ließe sich vermeiden, dass sich die Sicherheitsleistungen für die anderen Clearingteilnehmer der Clearingbanken nochmals erhöhen und ein Dominoeffekt eintrete. Durch die Stützung der europäisch agierenden Clearingbanken könne der gesamte Energiemarkt auf dem Kontinent stabilisiert werden.
Der Bund greift zunächst zu direkteren Hilfen. Im Rahmen des „Schutzschildes für vom Krieg betroffene Unternehmen“ hat er ein Finanzierungsprogramm für durch hohe Sicherheitsleistungen gefährdete Unternehmen angekündigt. „Hierfür erarbeitet die Bundesregierung standardisierte Kriterien, um den Unternehmen kurzfristig mit einer Bundesgarantie unterlegte Kreditlinien der KfW zu gewähren“, heißt es. Für diese Maßnahme sei ein Kreditvolumen von bis zu 100 Mrd. Euro vorgesehen.
Auch über weitere politische Eingriffe wie eine Deckelung der Margins wird unter Händlern diskutiert. „Eine Begrenzung von Sicherheitsleistungen für Risiken aus Transaktionen am Großhandelsmarkt widerspricht dem Grundgedanken von Clearing“, wendet die Leipziger European Energy Exchange (EEX) ein. Die Regelungen zur Besicherung seien in Reaktion auf vergangene Krisensituationen wie die Finanzkrise 2008 eingeführt worden und hätten sich in schwierigen Marktphasen bewährt. Staatliche Eingriffe in den Handel wie Preisobergrenzen seien ungeeignet, da sie der Signal- und Anreizwirkung der Preise widersprächen und die Situation eher verschärften als entschärften. Schließlich entstünden in der Folge Fehlanreize zur Verbrauchserhöhung.
Unterdessen erwartet die Strombörse, dass sich der Zulauf aus dem Over-the-Counter-Bereich an Börsenplätze mit zentralem Clearing infolge steigender Default-Risiken für die Marktteilnehmer fortsetzen wird. Eine solche Entwicklung zeichnete sich bereits in den Vormonaten ab. Im Jahr 2021 betrug der Anteil der EEX am deutschen Gesamtterminmarkt für Strom 51%, nachdem er sich im Vorjahr auf 44% belaufen hatte. Damit wurde erstmals mehr als die Hälfte des Volumens börslich über die EEX gehandelt. Denn mit reduziertem Counterparty-Risiko, so das Narrativ, lassen sich auch unruhige Monate einfacher überstehen.