„Verkauf ist für Start-ups das Rendezvous mit der Realität“
Von Sabine Reifenberger, Frankfurt
Insolvenz beim Fintech Nuri, mehr als 700 Entlassungen bei dem schwedischen Bezahldienst Klarna, 300 Stellen weniger in der Zentrale des Lieferdienstes Gorilla in Berlin: In der Start-up-Szene folgte zuletzt eine schlechte Nachricht auf die andere. Nachdem einige Start-ups an den US-Börsen aufsehenerregende IPOs geschafft hatten, kehrte in den zurückliegenden Monaten Ernüchterung ein: „Schon im Herbst 2021 war die Party für die ersten Marktteilnehmer vorbei“, sagt Mark Miller, Geschäftsführer der auf kapitalmarktnahe Wachstumsunternehmen spezialisierten Corporate-Finance-Beratung Carlsquare. Nach ersten negativen Erfahrungen habe die Vorsicht bei Private-Equity- und Venture-Capital-Investoren zugenommen.
Das drückt auf die Stimmung: Fast 44 % der Teilnehmer des Deutschen Startup Monitors nannten bei der jüngsten Befragung Finanzierungsengpässe als zentrales Hemmnis. Besonders drastisch ist der Rückschlag für Unternehmen, die zu Corona-Zeiten eine Sonderkonjunktur erfahren haben.
Diskussion über Bewertungen
Eines dieser Start-ups ist der Lebensmittellieferdienst Gorillas, der zuletzt als M&A-Kandidat ins Visier gerückt ist. Als Interessent gilt der Wettbewerber Getir, der noch im März 2022 eine Finanzierung von knapp 770 Mill. Dollar abgeschlossen hat und auf eine zweistellige Milliardenbewertung kommt. Gorillas hatte zuletzt im Herbst 2021 in seiner Series-C-Runde fast 1 Mrd. Dollar eingesammelt, bei einer Pre-Money-Bewertung von gut 2 Mrd. Dollar. Die Bewertungen sind derzeit mehr als ohnehin das zentrale Diskussionsthema – sowohl bei Finanzierungen als auch bei M&A-Deals.
„Der Verkauf ist für viele Start-up-Gründer das Rendezvous mit der Realität“, sagt Miller. Denn mit den fallenden Börsenkursen sind auch die Bewertungen für Start-ups heruntergekommen – die Investoren schauen sich börsennotierte Wettbewerber des Zielunternehmens an und nehmen deren stark gesunkene Bewertung als Benchmark.
Dabei sieht Miller keine grundsätzliche Finanzierungskrise in der Start-up-Szene. „Es ist nach wie vor sehr viel Kapital im Markt. Viele Venture-Capital- und Private-Equity-Fonds haben nach wie vor Anlagebedarf“, sagt Miller. Allerdings verschiebe sich das Interesse hin zu jungen Unternehmen, die kurz vor dem Break-even stehen oder bestenfalls schon profitabel wirtschaften. „In dem Bereich sind die Bewertungen fast stabil geblieben“, sagt Miller. Solche Start-ups sind rar gesät – und entsprechend stark umworben.
Auf Unternehmen wie Gorillas, deren Geschäft nicht profitabel ist, wächst dagegen der Druck. „Auch sie können Investoren finden, doch die gehen nicht jede Multiple-Erwartung mit. Gründer und Altinvestoren müssen dann Abschläge hinnehmen.“
Miller erwartet, dass reifere Start-ups ihre Finanzierung künftig breiter aufstellen. Einerseits mit Fremdkapitalangeboten wie Venture Debt, aber auch durch Allianzen. So kooperiert der Gorillas-Wettbewerber Flink beispielsweise seit dem vergangenen Jahr mit Rewe. „Hybride Formen aus Fundraising und strategischen Partnerschaften werden zunehmen.“
Private Equity stabilisiert
Derzeit haben Millers Beobachtung nach die mit großer Firepower ausgestatteten PE-Investoren „einen stabilisierenden Effekt“ bei Finanzierungen in der Start-up-Szene, auch wenn sie zurückhaltender sind. „Die Bewertungen sind im Schnitt um etwa 20 % heruntergekommen“, schätzt Miller. Für ihn ist der Rückschlag in erster Linie eine Korrektur der zeitweise stark gestiegenen Bewertungen. „In vielen Bereichen liegen wir auf dem Niveau von 2019.“ Die Zeiten von Preisfindungen auf Basis von Umsatz-Multiples seien allerdings passé: „Investoren wollen einen klaren Weg zum Break-even sehen und idealerweise ein positives operatives Ergebnis.“
Wer dies noch nicht vorweisen kann, könne möglicherweise besser ein oder zwei Jahre darauf hinarbeiten und erst dann erneut mit Investoren sprechen. Der gestiegene Profitabilitätsdruck ist für Miller auch ein Grund, dass einige Start-ups zuletzt mit Sparrunden und Entlassungen reagiert haben. Allerdings birgt der schnelle Abbau von Teams auch ein Risiko: Im Deutschen Startup Monitor nennen 35 % den Fachkräftemangel als zentrales Hemmnis. „Wer jetzt in großem Stil Mitarbeiter entlässt, muss damit rechnen, dass diese nicht wieder zurückkommen, wenn die Kurse wieder auf Wachstum stehen.“