Die alte Autowelt steht unter Strom
Autohersteller sehen sich mit der wohl größten Umwälzung ihrer Branche seit Erfindung des Kraftfahrzeugs Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert. Das absehbare Ende des Verbrennungsantriebs, ein fundamentaler Wandel, wie Autos verkauft werden, Kompetenzen bei Software und künstlicher Intelligenz, die künftig über Erfolge im Wettbewerb entscheiden werden: Mit neuen Technologien und neuen Marktteilnehmern wird sich die Autoindustrie in den kommenden Jahren neu sortieren.
Marktführer aus der „alten“ Autowelt wie Volkswagen sind dabei, sich auf den neuen Wettbewerb einzustellen. Nur wer die Konkurrenz verstehe und im Blick habe, könne gewinnen, sagt Herbert Diess, Vorstandsvorsitzender von Europas größtem Fahrzeugbauer. Als Hauptkonkurrenten sieht man in Wolfsburg seit längerem bereits Tesla an – nicht zuletzt durch den Zugang zu Geld und Ressourcen infolge einer rund siebenfach höheren Börsenbewertung des noch jungen US-Elektroautopioniers. Im September war das Tesla Model 3 noch vor dem Golf das meistverkaufte Auto in Europa – obwohl der Wettbewerber bislang nur importiert. Aber auch Start-ups, die etwa aus China in den Markt drängen, sowie finanzstarke IT-Konzerne, die mit viel Kompetenz bei Software und Elektronik Wachstumschancen in der künftigen Autowelt sehen, stellen eine potenzielle Gefahr für die bisherige Position des Zwölfmarkenkonzerns dar.
Den im Herbst wieder aufgeflammten Machtkampf mit der Arbeitnehmervertretung erklärte der VW-Chef nach dem Treffen des VW-Aufsichtsrats, der am 9. Dezember die neue Investitionsplanung für die kommenden fünf Jahre beschloss, denn auch mit großen Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswagen. Doch infolge der „Planungsrunde 70“, die bis 2026 mit 89 (2020: 73) Mrd. Euro erstmals mehr als die Hälfte (56%) der geplanten Gesamtinvestitionen für Zukunftstechnologien vorsieht, sowie nach einer ebenfalls beschlossenen Erweiterung des Konzernvorstands scheint der VW-Chef inzwischen „sehr viel zuversichtlicher, dass wir den Wettbewerb bestehen werden“.
Jahrhundertprojekt
Großer Hoffnungsträger ist das Elektrofahrzeugprojekt Trinity, das in Wolfsburg gebaut von 2026 an auf den Markt kommen soll – als erstes Fahrzeug im Volumensegment auf der geplanten vollelektrischen Scalable Systems Platform (SSP) von Volkswagen für alle künftigen Konzernmodelle. Bei VW spricht man von einem Jahrhundertprojekt, das die Beschäftigung in der Region um den Konzernsitz langfristig sichere und die Bedeutung des Industriestandorts Deutschland nachhaltig stärke. Trinity soll nicht nur hohe Reichweiten von rund 700 Kilometer, sehr kurze Ladezeiten sowie flexibel „over the air“ gebuchte On-Demand-Lösungen bieten, sondern autonomes Fahren auf Level-4-Ebene massentauglich werden lassen.
Zugleich will der Autobauer mit dem Projekt einen Sprung bei Produktivität und Effizienz schaffen. Die Komplexität des Autos soll durch Verringerung der Variantenzahl gemessen etwa an einem aktuellen Golf 8 drastisch reduziert werden. Verglichen mit der Fertigung eines ID-Elektroautos in Zwickau, die derzeit mehr als 30 Stunden benötigt, soll der Trinity in Wolfsburg in zehn Stunden vom Band rollen. Damit würde sich VW auf dem zuletzt kolportierten Niveau von Tesla am künftigen brandenburgischen Standort Grünheide bewegen. Aktuell ist bei VW von einem Einstiegspreis von 35000 Euro die Rede, im ersten Schritt sollen rund 250000 Trinity pro Jahr gebaut werden.
Schon vorher, spätestens 2025, will VW Weltmarktführer für Elektrofahrzeuge in den USA, China und Europa sein. Bis 2030 sollen reine E-Autos 70% des Absatzes in Europa und jeweils über 50% in Nordamerika und China ausmachen. In den Vordergrund rückt aber in den kommenden Jahren der Aufbau der bislang noch geringen Software-Kompetenzen. Im Konzern übernimmt Vorstandschef Diess im neuen Jahr die Verantwortung für die Software-Einheit Cariad. Der Autobauer sieht sich gefordert, das Innovationstempo zu steigern und neue Technologien schneller in seine Fahrzeuge zu bekommen – gerade in China, wo sich die Kernmarke über Jahrzehnte mit ihren Partnern eine führende Position sichern konnte, zuletzt jedoch Marktanteile verlor.
Im überragend wichtigen chinesischen Markt sehen sich die Wolfsburger einer einigermaßen ungewohnten doppelten Herausforderung gegenüber. Im Massengeschäft mit Benzinern unter der VW-Marke ist man von einem konjunkturellen Abwärtssog und der insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2021 prononcierten Konsumentenzurückhaltung voll erfasst worden. Die gegenwärtige Palette von in China produzierten Batteriefahrzeugen wiederum ist noch nicht geeignet, um am rauschhaften Absatzboom im E-Auto-Segment voll zu partizipieren, was ebenfalls negativ auf die Marktanteilsposition in China abfärbt. Damit steht VW freilich nicht allein unter den tradierten globalen Platzhirschen, deren China-Auftritt in der Elektromobilität von einer neuen Wettbewerbssituation geprägt ist.
Hackordnung aufgehoben
Mit dem beschleunigten Umstieg auf E-Fahrzeuge in Chinas größten Ballungszentren wird ein Meilenstein passiert. Im weltgrößten Pkw-Markt kommen die „New Energy Vehicles“ auf eine Steigerungsrate von 180% und erreichen damit die zuvor nur von Optimisten avisierte Marke von 3 Millionen Neuzulassungen binnen eines Jahres. Erstmals kann man damit auch in einem signifikanten Ländermarkt eine zweistellige Marktdurchdringungsrate feststellen, der Anteil der E-Autos an den gesamten Pkw-Verkäufen lag 2021 bei mehr als 13%.
Für die VW-Gruppe und globale Konsorten ist das nicht unbedingt ein Anlass zur Freude, denn der über Jahrzehnte hinweg gefestigte Renommee-Vorsprung in Sachen technologischer Entwicklung und Markenidentität der Autokonzerne aus Deutschland, Japan und USA lässt sich nicht eins zu eins auf das Werturteil der jüngeren Garde von chinesischen Erstkäufern übertragen. Diese aber werden zur bestimmenden Kraft für den Absatztrend im Pkw-Markt und setzen neue Maßstäbe in der Kundenansprache. Dies stellt die etablierte Hackordnung der gefühlt höherwertigen ausländischen und minderwertigen chinesischen Marken in Frage.
Bei gehobenen Fahrzeugen setzt die mittlerweile kostengünstig in Schanghai produzierende Tesla die Maßstäbe, muss sich aber zunehmend mit einer Reihe von chinesischen Start-ups, darunter insbesondere Nio, Xpeng und Li Auto, als ernsthaften Konkurrenten auseinandersetzen, denen es ebenfalls gelingt, ihren Kunden eine Art technologieaffines Clubgefühl zu vermitteln. In der Mittelklasse wiederum, wo das Statusdenken weniger ausgeprägt ist, sind chinesische Autobauer wie BYD, SAIC, BAIC und viele andere mehr mit ihrer frühen Ausrichtung auf Elektromobilität mit einem wesentlich umfangreicheren Angebot als die ausländischen Platzhirsche unterwegs, deren Entwicklungsstrategie für E-Autos zunächst nicht eigens auf den chinesischen Markt zugeschnitten wurde.
Kann es den etablierten Herstellern gelingen, den gegen sie laufenden Trend zu unterbrechen und sich auch in Chinas E-Auto-Markt langfristig wieder an die Spitze zu setzen? Die Ungewissheit ist groß, aber einiges spricht dafür. VW ist mit dem ID.4 als erstem Vertreter der von Grund auf neu konzipierten E-Auto-Serie in den ersten Monaten auf sehr bescheidene Resonanz gestoßen. Tatsächlich kommt das Elektro-SUV mittlerweile nahe an die Verkaufszahlen der Konkurrenzmodelle von Tesla, Nio und Xpeng in China heran und dürfte bald auf der Überholspur sein. Bei den beiden weiteren Marktneulingen ID.6 und ID.3 könnte es ähnlich aussehen. VWs bisheriger Markterfolg in China gründet darauf, mit einer extrem breiten Modellpalette alle Kundensegmente im Volumengeschäft abzudecken, ohne dass dabei ein einzelnes Marktführerschaft in China genießt. Beim Vorstoß ins Volumengeschäft mit E-Autos dürfte es ähnlich aussehen. Erst in zwei bis drei Jahren, wenn VW die angedachte ID-Palette auch tatsächlich ausgerollt hat, wird sich zeigen, ob die Marktführerschaft in China ein Auslaufmodell ist.
Von Norbert Hellmann, Schanghai, und Carsten Steevens, Hamburg