KI-Boom rüttelt Kundenprüfung bei US-Banken durch
KI-Boom wirbelt Kundenprüfung bei Amerikas Banken durcheinander
US-Banken ringen mit Problemen in ihren Know-Your-Customer-Prozessen. Künstliche Intelligenz droht diese noch zu verschärfen – und Gefahren für den Wachstumsmotor Wealth Management heraufzubeschwören.
Von Alex Wehnert, New York
Eine selbst ernannte Prinzessin mit einem angeblichen Vermögen von 5 Mrd. Dollar beschäftigt Morgan Stanley über Wochen. Die Kanadierin, die sich als Verwandte des letzten Königs von Rumänien, Erbin eines Öl- und Gasimperiums und Eigentümerin eines Pharmaunternehmens ausgibt, fragt im April 2021 die Wealth-Management-Dienstleistungen des New Yorker Geldhauses an. Obwohl kein Bankmitarbeiter die Frau, die sich angeblich in Monaco aufhält, jemals persönlich getroffen und noch nicht einmal per Video verifiziert hat, erhält sie schnell die Freigabe für vier Konten und einen zum Derivate-Trading aufgelegten Niedrigzinskredit über 100 Mill. Dollar. Doch bei Geldtransfers in die Accounts wollen angebliche Mitarbeiter der Kanadierin nicht das internationale Gironetz Swift nutzen, sondern ein veraltetes Wire-Transfer-Protokoll.
Strukturelle Probleme
Dann endlich schrillen die Alarmglocken in der Anti-Finanzverbrechensabteilung von Morgan Stanley. Als offenbar wird, dass die Bank ihre Kundin keines Background-Checks, ganz zu schweigen von einer erweiterten Due-Diligence-Prüfung, unterzogen oder die Quelle, aus der ihre Mittel stammen, verifiziert hat, argumentieren erste Mitarbeiter für ein Ende der Geschäftsbeziehung. Doch erst im Juni 2021 – zwei Monate, nachdem die überdies fälschlicherweise als US-Kundin eingestufte Kanadierin auf der Bildfläche erschienen ist – ergreift Morgan Stanley konkrete Maßnahmen, um die Bindungen zu kappen. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die in Amerikas Finanzkreisen gerade hohe Wellen schlagen und die das „Wall Street Journal“ zuerst ausgewertet hat.
Zwar ging der Fall für Morgan Stanley oberflächlich betrachtet glimpflich aus: Auf den Konten der vermeintlichen Prinzessin landeten nie Mittel, den Niedrigzinskredit nahm die Kundin nie in Anspruch. Doch zeigt das Beispiel nach Ansicht von Branchenkennern strukturelle Probleme einiger der größten amerikanischen Banken im Onboarding von Kunden auf. Gerade Morgan Stanley ist dabei erheblich unter Druck geraten: Das US-Justizministerium, die Federal Reserve, die Wertpapieraufsicht SEC, das Financial Crimes Enforcement Network (Fincen) des US-Finanzministeriums und andere Behörden haben allesamt Ermittlungen dazu angestoßen, ob die Anti-Geldwäsche-Prozesse des Wall-Street-Hauses regulatorischen Ansprüchen genügen.
Neue Möglichkeiten für Kriminelle
Die Aufseher, so fürchten es Betrugs- und Technologieexperten, werden die Anti-Money-Laundering- und Know-Your-Customer-Praktiken im Sektor in den kommenden Jahren noch viel kritischer überwachen müssen. Denn der Boom um generative künstliche Intelligenz (KI) schafft neue Möglichkeiten für Kriminelle, Bankmitarbeiter zu blenden und auch sorgfältigere Due-Diligence-Prozesse in der Kundenprüfung zu überstehen.
Die Firma Reality Defender führt auf der Finanzbranchenkonferenz „Money 20/20“ in Las Vegas Ende Oktober vor, wie realistisch Betrüger selbst in Echtzeit-Videocalls simulieren können, dass es sich bei dem auf dem Bildschirm abgebildeten Gegenüber um eine reale Person handelt. „Die Risiken durch Deepfakes nehmen derzeit stark zu“, sagt Reality-Defender-Gründer Ben Colman. Zumeist werde dabei mithilfe hochleistungsfähiger Grafikprozessoren das Gesicht eines Menschen über das eines anderen gelegt. Die Bewegungen der Gesichtszüge und Lippen, die Gestik, die Modulation der Sprache: Bei fortschrittlichen, über KI betriebenen Betrugsanrufen ist für den Laien mit dem bloßen Auge keine Täuschung erkennbar.
Hohe Verluste durch Deep Fakes drohen
Das Datensicherheitsunternehmen Entrust betont, dass die Zahl der Deep-Fake-Attacken allein in den vergangenen beiden Jahren um 3.000% zugenommen hat. Laut der Beratungsgesellschaft Deloitte könnte generative KI dazu beitragen, die Verluste der Finanzdienstleistungsbranche durch Betrug allein in den USA bis 2027 auf 40 Mrd. Dollar anzuschieben. Gegenüber 2023 impliziert dies eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 32%. Ohne generative KI, so wollen es die Deloitte-Analysten errechnet haben, würden die Verluste in drei Jahren in der Spanne zwischen 15 und 20 Mrd. Dollar liegen.
Das beinhaltet direkte Verluste durch abgezweigte Mittel. Doch auch dadurch, dass Kreditinstitute infolge von Anfälligkeiten ihrer Know-Your-Customer-Prozesse Kriminellen unwissentlich bei der Geldwäsche und der Finanzierung von Verbrechen helfen, drohen laut Experten schwer absehbare Folgeverluste und regulatorische Strafen. Deshalb sind neue Schutzmechanismen nötig. Reality Defender hat in Kooperation mit Nvidia und Oracle beispielsweise eine multimodale Plattform aufgebaut, mit der Banken Deep Fakes erkennen können sollen. „So verhindern wir, dass Finanzinstitute in Know-Your-Customer-Prozessen oder bei der Freigabe von Transaktionen getäuscht werden“, betont Colman.
Motivation in Zweifel
Ob sich solche Lösungen aber schnell genug skalieren lassen, um den massiven Prüfungsbedarf der großen US-Finanzinstitute zu decken, gilt unter Forschern als zweifelhaft. Schließlich entwickelten Kriminelle ihre Methoden mithilfe der neuen Technologie schneller weiter, als die Banken überhaupt reagieren könnten. Schon in der Debatte darüber, ob Finanzdienstleister selbst KI-Anwendungen zum Kampf gegen Betrug entwickeln oder externe Lösungen zukaufen sollen, ist die Branche gespalten, wie sich auf der „Money 20/20“ zeigt. Und, wie es aus Regulierungskreisen heißt: „Die besten Prüfmethoden bringen wenig Mehrwert, wenn die Motivation für eine umfassende Due Diligence nicht gegeben ist.“
Schließlich liefen Banken Gefahr, mit dem Wealth Management einen zentralen Wachstumsmotor ihrer Assets ins Stottern zu bringen, wenn sie in KYC-Prozessen zu genau hinschauten. Gerade für Morgan Stanley, die im Zuge der Subprime-Krise ab 2007 zeitweise 80% ihres Börsenwerts einbüßte, wurde die Vermögensverwaltung und Anlageberatung für gut betuchte Kunden zentraler Treiber der Erholung. Der langjährige CEO James Gorman trieb den Ausbau auch über Akquisitionen des Investmentberaters Smith Barney oder der Brokerplattform E-Trade voran. Inzwischen kommt die Wealth-Management-Sparte auf rund 6 Bill. Dollar an Assets, nachdem die quartalsweisen Nettozuflüsse in den vergangenen dreieinhalb Jahren wiederholt über die Marke von 100 Mrd. Dollar ausschlugen.
Zahlreiche Nachahmer an der Wall Street
In der Vermögensverwaltung und Anlageberatung erzielte das New Yorker Geldhaus zuletzt über 47% seiner Erlöse, womit es das institutionelle Wertpapiergeschäft übertrifft. Der Geschäftszweig, der zunächst vor allem als Möglichkeit zur Quervermarktung von Investment-Banking-Dienstleistungen an vermögende Unternehmer galt, ist zunehmend zur Gewinnstütze geworden, mit der sich die Bank unabhängiger von volatilen Erträgen aus dem Kapitalmarktgeschäft macht.
Das findet an der Wall Street zahlreiche Nachahmer: J.P. Morgan arbeitet seit 2019 intensiver daran, das Wealth Management auszubauen, und hat durch die Übernahme der kollabierten First Republic Bank 2023 einen Sprung nach vorn gemacht. Goldman Sachs, die sich seit 2022 nach einem verunglückten Ausflug aus dem Privatkundengeschäft zurückzieht, rückt die Vermögensverwaltung seither ebenfalls in den Fokus. Die Assets under Supervision sind seither um rund 28% auf über 3,1 Bill. Dollar geklettert.
Internationale Kunden im Blick
Analysten sagen dem Wealth Management einen anhaltenden Boom voraus. Die Beratungsgesellschaft PwC rechnet branchenweit bis 2027 mit einem durchschnittlichen Wachstum der verwalteten Mittel von 5% pro Jahr auf insgesamt 147,3 Bill. Dollar. Gerade internationale Kunden gelten als Treiber des Mittelwachstums von Amerikas führenden Banken. Doch ein Risk-Team von Morgan Stanley fand 2022 heraus, dass 60% der internationalen Konten, die Investmentberater für Kunden zu eröffnen suchten, fehlerhaft waren – in vielen Fällen fehlten Dokumente, andere enthielten falsche Angaben zum Einkommen.
Zudem bescheinigte die Bank in einem 2023 verfassten Dokument nahezu einem Viertel ihrer internationalen Wealth-Accounts ein hohes bis sehr hohes Geldwäsche-Risiko. Der KI-Boom droht, die Dunkelziffer bei Amerikas Geldhäusern in die Höhe zu treiben. Damit steht KYC-Teams, denen die Regulatoren im Nacken sitzen, noch viel Arbeit ins Haus.
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