Britische Aktien setzen zur Aufholjagd an
Von Andreas Hippin, London
Der FTSE 100 ist vom jüngsten Kursrutsch an den Weltbörsen weitgehend verschont geblieben. Dazu dürfte das geringe Gewicht von Technologiewerten und der hohe Anteil von Energie- und Rohstoffunternehmen ebenso beigetragen haben wie die stark vertretenen Banken, deren Aktien von der Erwartung beflügelt werden, dass die Zinsen weiter steigen. Sechs Jahre lang hinkte der britische Standardwerteindex dem Rest der globalen Aktienmärkte hinterher. Nun könnte er zum Sprung ansetzen.
Investitionen priorisiert
Der starke Preisauftrieb belastet zwar die Stimmung der Verbraucher, doch in der Wirtschaft steigt die Stimmung. Das jüngste Ergebnis der monatlichen Einkaufsmanagerblitzumfrage des Datenanbieters IHS Markit spricht für sich: Der Flash UK Composite Output Index stieg im Februar um 6,0 auf 60,2 Punkte, den höchsten Wert seit acht Monaten. Die schnelle Lockerung der Corona-Restriktionen, nachdem sich die Omikron-Variante des Virus als vergleichsweise mild herausgestellt hatte, beflügelt vor allem das Dienstleistungsgewerbe. Die Unternehmen hielten sich zwar bislang mit Investitionen zurück, doch zählten in der von Deloitte durchgeführten CFO-Quartalsumfrage zuletzt so viele Finanzchefs wie nie zuvor (37%) höhere Investitionen zu ihren größten Prioritäten.
Der Jefferies-Stratege Sean Darby ist vor diesem Hintergrund optimistisch für britische Aktien, insbesondere Banken und Hersteller von Kapitalanlagegütern. Mislav Matejka, der die Aktienstrategie für J.P. Morgan entwickelt, stufte Großbritannien bereits im Schlussquartal 2020 auf „Overweight“ herauf. Der Markt erscheine „extrem billig“, selbst wenn man die Value-Branchen Banken und Energie nicht mit einbeziehe. Matejka geht davon aus, dass sich die im FTSE 100 repräsentierten Unternehmen der Exportwirtschaft in den kommenden Monaten besser entwickeln werden als die vornehmlich auf den Heimatmarkt fokussierten FTSE-250-Gesellschaften. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass billig erscheinende Aktien noch billiger werden können. Doch wird Anlegern das Warten auf steigende Kurse im Vereinigten Königreich besser vergütet als anderswo.
Mit einer Dividendenrendite von 3,4% liegt Großbritannien vor Japan (2,3%) und der Eurozone (2,2%). US-Aktien werfen nur 1,3% ab. Der Abstand zur Rendite zehnjähriger Staatsanleihen beläuft sich auf stattliche 2,1 Prozentpunkte. Im Pandemiejahr 2020 kürzten oder strichen viele Unternehmen ihre Dividenden. Ihre Bilanzen sind seitdem stärker geworden, was höhere Ausschüttungen an die Anteilseigner ermöglicht. Zuletzt bedachten die Ölkonzerne BP und Shell die Aktionäre mit milliardenschweren Aktienrückkaufprogrammen und Dividendenerhöhungen. Natwest kündigte an, ihre Dividende von 3 auf 7,5 Pence je Anteilsschein zu erhöhen und für 750 Mill. Pfund Aktien zurückzukaufen. Das zuvor als Royal Bank of Scotland bekannte Institut dürfte sich schon bald mehrheitlich in privaten Händen befinden. Die in der Finanzkrise eingegangene Staatsbeteiligung wurde in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt zurückgefahren. Auch Barclays und HSBC übten sich in Aktionärsbeglückung.
Robuster Geldumlauf
Analysten unterstellen für die kommenden zwölf Monate ein Wachstum der Unternehmensgewinne von 8,5%. Aus Darbys Sicht könnte es auch stärker ausfallen. „Zugegeben, steigende Kosten sind eine Bremse für die Margen und eine Belastung für die Kaufkraft der Verbraucher“, sagt Darby. „Doch dieses Problem wird am Ende durch eine Kombination aus höheren Zinsen, zusätzlichen Kapazitäten und steigenden Löhnen gelöst.“ Ein schwacher Geldumlauf gehöre nicht zu den Problemen, unter denen das Vereinigte Königreich leide. Für die Wirtschaft sei das eine gute Nachricht.
Wie der Liberum-Capital-Stratege Joachim Klement herausgefunden hat, weisen derzeit nicht nur Bankaktien und Energiewerte eine hohe Korrelation zu Anleiherenditen und dem Ölpreis auf, sondern auch Value-Aktien aus der Gesundheits- und der Technologiebranche. Ein Blick auf solche Titel könne als „Quelle der Inspiration“ für Investments dienen, die Schutz vor höheren Energiepreisen und Anleiherenditen böten. Auf Klements Liste britischer Value-Aktien finden sich Spire Healthcare, Puretech Health, Microfocus International und TT Electronics.
Kleine Titel unterschätzt
Auch in diesem Jahr dürften Übernahmen und Fusionen eine große Rolle spielen, vor allem bei den Nebenwerten. „Der britische Aktienmarkt mag den Ruf haben, voller Unternehmen der Old Economy zu sein und im Allgemeinen nicht das in der US-Techbranche zu beobachtende Turbowachstum aufzuweisen“, sagt Russ Mould, Investment Director beim Broker AJ Bell. „Doch wird dabei die Vielzahl kleiner und mittelgroßer Unternehmen unterschätzt, die sich eine Nische geschaffen haben und zu wichtigen Akteuren geworden sind.“
Zuletzt standen Logistikdienstleister im Fokus. Die New Yorker GXO Logistics bot annähernd eine Mrd. Pfund für Clipper Logistics, die zwei Drittel ihres Geschäfts mit dem E-Commerce-Fulfilment für Unternehmen wie Asos oder Boohoo.com macht. Die kuwaitische National Aviation Services offerierte den Anteilseignern des Flughafendienstleisters John Menzies gut eine halbe Milliarde Pfund. Es bedarf aber schon hellseherischer Fähigkeiten, das nächste Übernahmeziel treffsicher zu erkennen. Das gilt auch für Börsengänge. Deliveroo und Dr. Martens notieren derzeit unter ihrem jeweiligen Ausgabepreis. Man darf gespannt sein, wie es der schottischen Brauerei Brewdog ergehen wird, sollte sich diese noch im laufenden Jahr aufs Londoner Parkett wagen.