Der Euro ist nicht „günstiger“ geworden
Von Sven Schubert *)
Selten ist der Euro so schlecht in ein Jahr gestartet wie in diesem. Einschließlich August ist es sogar die schlechteste Achtmonatsbilanz seit der Einführung des Euro gegenüber dem US-Dollar. Weder das Jahr der Finanzmarktkrise 2008 (+0,7%) noch das Jahr der europäischen Schuldenkrise 2010 (−11,4%) weisen eine schlechtere Entwicklung über denselben Zeitraum auf. Eines unterscheidet den aktuellen Bärenmarkt der Gemeinschaftswährung jedoch maßgeblich von sämtlichen anderen seit seiner Einführung: Die Bewertung des Euro hat sich nicht verbessert.
Seit Ende 2020 ist der Euro – trotz der Abwertung von 1,23 Dollar auf unter Parität – nicht „günstiger“ geworden – zumindest wenn man die Kaufkraftparität als Bewertungsmodell heranzieht. Zwar ist die Währungsbewertung mit Modellen wie der Kaufkraftparität keine präzise Wissenschaft. Allerdings gibt sie eine gute Indikation für die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes (EWU) gegenüber einem anderen Land (USA), wobei sich die Wettbewerbsfähigkeit der Eurozone gegenüber anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten und der Schweiz deutlich verschlechtert hat.
Angebotsschock
Hierbei spielen die Angebotsschocks, von denen wir seit den 1990er Jahren grundsätzlich verschont geblieben sind, eine wesentliche Rolle. Während wir in den ersten Coronajahren (2020 bis 2021) mit Lieferengpässen von Frachtcontainern und Elektronik (insbesondere Chips) zu kämpfen hatten, wird die Weltwirtschaft seit spätestens März 2022 von einer – wenn auch teils selbstauferlegten – Rohstoffknappheit belastet. Auch wenn der Konjunktureffekt den ehemaligen Exportweltmeister Deutschland und seine europäischen Nachbarländer stärker trifft als Länder wie die USA und somit eine Euro-Abwertung rechtfertigt, so ist der für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidende Effekt der Inflationseffekt.
Gemessen an der Basis, also beim Produzenten, verzeichnet Europa seit Ende 2020 einen massiven Inflationsschock. Zwar ist die Konsumentenpreisinflation mit 9,2% in der Eurozone nur marginal höher als in den USA (8,5%), jedoch sind die Kosten, welche die Produzenten tragen beziehungsweise weitergeben müssen, in Europa deutlich höher als in den Vereinigten Staaten. Während Letztere in den USA seit Ende 2020 einen Produzentenpreisanstieg um beachtliche 22% verdauen mussten, hat die Eurozone einen Anstieg von über 50% zu verzeichnen, die Schweiz lediglich 6%. Diese Diskrepanz kann einerseits auf die schlechtere Energiediversifizierung der Eurozone sowie auf die stärkere Industrielastigkeit der Europäischen Wirtschaft gegenüber den USA oder der Schweiz zurückgeführt werden. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zur Eurozone die USA kein Nettoimporteur von Rohöl mehr sind. Dies erklärt den insgesamt höheren Endverbrauch beziehungsweise Preiseffekt Europas.
Zittern vor kaltem Winter
Trotz der starken Abwertung in diesem Jahr bleiben die Risiken des Angebotsschocks auf den Euro bestehen. Hierbei spielt die Energieabhängigkeit Europas von russischem Gas eine wesentliche Rolle. Zwar sind die Lager im EU-Durchschnitt zu gut 60% gefüllt. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob bei diesen Lagerbeständen Energierationierungen in diesem Winter vermieden werden können. In einem normalen Winter verbraucht die Europäische Union etwa die doppelte Menge des derzeitig gelagerten Gases. Somit hängt die Antwort von der Kälte des kommenden Winters und möglichen alternativen Energiequellen wie dem Verbrennen von Öl als Gasersatz ab. Auch werden die Solidarität der EU-Länder, sich gegenseitig bei Engpässen auszuhelfen, und Russlands Bereitschaft, weiterhin Gas zu liefern, entscheidend für die ökonomischen Konsequenzen des Winters sein. Beides darf zumindest bezweifelt werden, wobei Russland seine Lieferungen über die letzten Monate massiv reduziert und über Nord Stream 1 wegen angeblicher Wartungsarbeiten sogar kürzlich eingestellt hat. Somit könnte sich der relative Wettbewerbsverlust der Eurozone noch eine Zeit lang hinziehen, vielleicht sogar bis weit ins Jahr 2023.
Peripherie bereitet Sorgen
Selbst wenn signifikante Energierationierungen in diesem Winter vermieden werden können, so bleibt das Risiko einer europäischen Rezession hoch. Obwohl die hohen Energiepreise das schlagkräftigste Argument für eine Rezession in der Eurozone sind, sind sie nicht das einzige. China, welches einen wichtigen Absatzmarkt für Europa darstellt, hat mit seinen ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Insbesondere der Immobilienmarkt, welcher über direkte und indirekte Verzweigungen über 20% der chinesischen Wirtschaftskraft ausmacht, befindet sich noch im freien Fall. Zwar sind die chinesischen Bemühungen, den Sektor zu stabilisieren, massiv verstärkt worden, jedoch ist eine Bodenbildung derzeit noch nicht in Sicht.
Die Folgen einer europäischen Rezession auf den Euro hängen jedoch nicht nur von den ökonomischen Kosten, sondern auch von den Risiken einer erneut aufkommenden Schuldenkrise in der Peripherie ab. Aggressive Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) in den kommenden Monaten gepaart mit einem starken Konjunkturabschwung könnten die Refinanzierungskosten in Ländern wie Italien deutlich steigen lassen. Ein Anstieg der Risikoprämie auf den Euro scheint daher mehr als möglich, insbesondere wenn es in Italien zu einem politischen Rechtsrutsch kommt.
Zwar hat die EZB bereits Instrumente zum Gegensteuern der Fragmentierung (Ausweitung der Spreads) innerhalb der EWU, allerdings besteht weiterhin Rechtsunsicherheit bezüglich dieses Instruments. Zwar wurden in den vergangenen Jahren Verfassungsklagen gegen die quantitativen Lockerungsprogramme der EZB vom europäischen Gerichtshof (EuGH) abgeschmettert. Allerdings mit dem Hinweis des EuGH, dass das EZB-Kaufprogramm das vorrangige Ziel der Preisstabilität hat. Ein Argument, welches in Anbetracht der höchsten Inflation seit den 1980er Jahren keinen Bestand haben dürfte. Auch wenn es bei der Ausgestaltung des Programms Möglichkeiten zur Reduzierung der inflationären Effekte gibt, so bleibt eine substanzielle Unsicherheit hinsichtlich des Bewegungsspielraums der EZB bestehen.
Ende mit Schrecken
Dennoch könnte sich der Angebotsschock langfristig für die Eurozone auszahlen. Nämlich dann, wenn dieser Schock die Umstellung auf alternative Energien und Investitionen in Infrastruktur in den nächsten Jahren beflügelt. Dies könnte Europa in der zweiten Hälfte der 2020er wieder die benötigte Wettbewerbsfähigkeit zurückgeben. Für den Euro liegt dieses Szenario noch zu weit in der Zukunft, weshalb der Euro-Dollar-Wechselkurs seinen Boden wohl nicht vor dem Winter 2022 finden dürfte.
*) Sven Schubert ist Senior Investment Strategist bei Vontobel.