„Die Inflation wird hoch bleiben“
Christopher Kalbhenn.
Herr Preißler, der Ukraine-Krieg hat das Umfeld für die Finanzmärkte tiefgreifend verändert. Auf was müssen sich Anleger einstellen?
Auch wenn er mittlerweile etwas abgedroschen klingt, bietet sich der Begriff Zeitenwende auch für die Finanzmärkte an, vor allem, weil sich das Inflationsklima nachhaltig verschlechtert. Letzteres hat sich allerdings bereits in den zurückliegenden Jahren angekündigt, da sich inflationär wirkende Treiber wie der demografische Wandel beziehungsweise der Arbeitskräfteschwund langsam, aber stetig vollziehen. Durch den Krieg hat der Inflationsprozess einen zusätzlichen Schub erhalten, insbesondere durch steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise sowie durch Lieferkettenprobleme etwa bei Halbleitern.
Besteht denn nicht die Aussicht auf eine Beruhigung auf der Inflationsseite?
Es kann durchaus sein, dass sich die Lage an den Energiemärkten und bei den Lieferketten im nächsten Jahr entspannt. Daher kann man getrost davon ausgehen, dass die Inflationsraten wieder sinken werden. Es wird jedoch nicht zur Rückkehr in die alte Komfortzone um 2% kommen. Die Inflation wird vielmehr hoch bleiben und sich eher um 4% bewegen.
Warum ist das so?
Das hat mit strukturellen Veränderungen zu tun, zu denen neben der Demografie vor allem die Deglobalisierung zählt. Begonnen hat dieses Phänomen schon unter Barack Obama, der punktuelle Handelsbeschränkungen mit dem Verweis auf das unfaire Verhalten Chinas einführte. Donald Trump hat es dann auf die Spitze getrieben und Handelsfragen zur Allzweckwaffe seiner Interessenpolitik umfunktioniert. International agierende Unternehmen mussten darauf reagieren und ihre Standortpolitik überdenken. Die Stabilität der Lieferketten rückte zulasten der Produktionskosten in den Vordergrund. Hinzu kommt die besorgniserregende Transformation Chinas hin zu einer Ein-Personen-Diktatur. Die vielfältigen regulatorischen Eingriffe, der staatliche Kontrollwahn, die Corona-Beschränkungen und die aggressiver werdende Politik gegenüber Taiwan treiben das Land in die Isolation. Damit verliert die Weltwirtschaft nicht nur ihren wichtigsten Konjunkturmotor, sondern auch einen Garanten für günstige Produktionsbedingungen. Das Ergebnis ist eine strukturelle Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums im Verbund mit höheren Inflationsraten.
Die Globalisierung befördert den Populismus. Welche Wirkungen gehen von ihm aus?
Durch die Globalisierung haben sich zwar die Einkommensunterschiede zwischen den Volkswirtschaften erheblich verringert, wie man am raschen Aufstieg Chinas gut erkennen kann. Innerhalb der Volkswirtschaften ist die Einkommensverteilung jedoch sehr viel ungleicher geworden, weil sich die Globalisierungsgewinne auf eine vergleichsweise kleine Gruppe konzentriert haben. In Kombination mit der höheren Inflation ist diese ungleiche Einkommensverteilung Futter für Populisten, die das Establishment beziehungsweise das Ausland für die Probleme verantwortlich machen. Populisten wie etwa Viktor Orbán bieten keine Lösungen an, sondern befördern mit ihrer Politik die internationale Abschottung. Darunter leiden Technologietransfer und ausländische Direktinvestitionen, was schlussendlich das Wachstum dämpft und die Inflation anheizt. Für die schädlichen Folgen ihres Handelns machen die Populisten dann wiederum das Ausland verantwortlich – das ist ein Teufelskreis.
Wie wirkt sich die Dekarbonisierung aus?
Auch die Dekarbonisierung ist ein struktureller Inflationstreiber. Nicht nur, weil der steigende CO2-Preis alle Energieträger verteuert, sondern weil in den vergangenen Jahren viel zu wenig in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert worden ist. Hinzu kommt, dass die Transformation des Energiesystems sehr große Mengen an Industriemetallen wie Kupfer, Nickel und Lithium erfordert. Unter anderem aus ESG-Gründen waren Unternehmen aber in den zurückliegenden Jahren nicht daran interessiert, in die Erschließung und Förderung neuer Vorkommen zu investieren. Das rächt sich jetzt, weil es lange dauert, das Angebot auszubauen, während die Nachfrage exponentiell wächst.
Welche weiteren Inflationstreiber gibt es?
Auch die neue Defizitkultur in der Fiskalpolitik ist ein Inflationstreiber. Die EZB hat schon 2018 unter Mario Draghi die weiße Fahne gehisst und im Rahmen der Makrosteuerung ein stärkeres Engagement der Fiskalpolitik gefordert. Die Regierungen haben sich nicht zweimal bitten lassen. Im Ergebnis explodieren jetzt nicht mehr die Notenbankbilanzen, sondern die Staatsschulden, die in den OECD-Staaten in den letzten zehn Jahren so stark gestiegen sind wie in den 50 Jahren davor. Während die Liquidität der Notenbanken an den Finanz- und Immobilienmärkten versickerte, ohne in die Realwirtschaft zu gelangen, entfalten Fiskalausgaben wie etwa die Hilfszahlungen in der Coronakrise ihre inflationäre Wirkung an den Gütermärkten unmittelbar . Gleichzeitig sorgt die Fiskalpolitik für eine höhere Volatilität im Wirtschaftswachstum – das Idealbild von der glättenden Wirkung staatlicher Konjunkturpolitik gibt es nur noch in älteren VWL-Lehrbüchern.
Wirken steigende Produktivität und technischer Fortschritt denn nicht ausgleichend?
Theoretisch ja, aber der viel beschworene Produktivitätsschub fehlt leider. Wir beobachten vielmehr seit 50 Jahren weltweit ein sinkendes Produktivitätswachstum, und ein Ende des Trends zeichnet sich nicht ab, trotz der für alle sichtbaren Technologisierung des Alltags. Wir umgeben uns zwar mit immer mehr Technologie, aber das macht uns offenkundig nicht produktiver.
Wie sehen die Aussichten auf der Zinsseite aus?
Wir müssen uns auf steigende Zinsen einstellen. Das ist ein Thema, das viele Anleger, auch institutionelle, in diesem Jahr auf dem falschen Fuß erwischt hat. Staatsanleihen haben das schwächste erste Halbjahr seit den 1920er Jahren erlebt. Nach wie vor dominiert an den Finanzmärkten die Hoffnung, die Notenbanken werden den Zinsanstieg stoppen, sobald die Inflation ihren Hochpunkt durchschritten hat. Ich befürchte hier ein böses Erwachen. Eine dauerhaft erhöhte Inflation zwingt die Notenbanken nämlich zum Handeln, weil sie andernfalls die Kontrolle über die Inflationserwartungen verliert. In diesem Fall droht eine Verarmung großer Bevölkerungsschichten und als Folge davon eine Stärkung der politischen Ränder – dieses Gemisch könnte sich als Sargnagel für die Europäische Währungsunion erweisen. Deswegen muss die EZB die Inflation entschlossen bekämpfen. Von den Kollateralschäden an den Finanzmärkten kann und darf sie sich nicht abhalten lassen.
Was kann man sich für die zehnjährige Bundrendite vorstellen?
Wenn sich die Inflation bei 3 bis 4% einpendelt, wird sich der neutrale Leitzins ebenfalls auf dieses Niveau begeben müssen. Dazu muss man noch die Steilheit der Zinskurve in Höhe von rund einem Prozentpunkt addieren, dann haben wir auf längere Sicht eine zehnjährige Bundrendite von 4 bis 5%.
Häufig ist der Einwand zu hören, dass die Notenbank das nicht zulassen wird, weil Peripheriestaaten wie Italien sich das nicht leisten können.
Das können die Peripheriestaaten durchaus. Zum einen dauert es lange, bis sich die höheren Zinsen im Staatshaushalt niederschlagen, weil jedes Jahr nur ein Teil der Staatsschulden refinanziert werden muss. Zum anderen wachsen die Staatseinnahmen wegen der gestiegenen Inflation ebenfalls mit einer höheren Rate. Im Falle Italiens wäre selbst bei einem Zins von dauerhaft 6% der Anteil der Zinszahlungen am Staatshaushalt immer noch viel niedriger als in den 1990er Jahren. Kritisch würde es nur dann werden, wenn die Risikoprämien in die Höhe schnellen, etwa infolge einer destruktiven Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Was bedeuten dauerhaft höhere Zinsen für die Anleihenmärkte?
Die Zinsen sind der Anker für die Bewertung sämtlicher Assets. Wenn dieser Diskont-Faktor steigt, geraten die Preise unter Druck. Deutlich sieht man das an den Kursverlusten von Staatsanleihen im bisherigen Jahresverlauf, auch weil es keine Kupons als Kompensation gab. In den nächsten zehn Jahren dürfte sich das sukzessive ändern. Die Kursverluste bleiben, aber steigende Kupons sorgen für ein Gegengewicht, so dass am Ende ein positiver Gesamtertrag resultiert. Insofern haben die Anleihenmärkte selbst bei weiter steigenden Zinsen das Schlimmste bereits hinter sich.
Wie hoch könnten die Kursverluste ausfallen?
Ein Anstieg der zehnjährigen Bundrendite von 1,5% auf 4% würde einen Kursverlust von 20% bedeuten.
Was sollen Anleger tun?
Unter den gegebenen Voraussetzungen wird ein aktives Management der Laufzeiten unverzichtbar, was vielfach erst mühsam wieder erlernt werden muss. In den letzten 30 Jahren haben die Marktteilnehmer die Erfahrung gemacht, dass sie dieses Durationsmanagement Geld in Form entgangener Gewinne gekostet hat, weil die immer wieder ausgerufene Zinswende nicht eingetreten ist. Viele Fondsmanager haben sich daher vom Durationsmanagement verabschiedet, so dass es jetzt nur noch wenige gibt, die das nachweislich können.
Welche Folgen zeichnen sich für die Aktienmärkte ab?
Für die Aktienmärkte bedeuten höhere Zinsen automatisch niedrigere Bewertungen. Außerdem zehrt die Inflation über höhere Lohn-, Material-, Energie- und Zinskosten an den Margen. Als Folge davon müssen die Gewinnerwartungen deutlich nach unten korrigiert werden, und damit verschlechtern sich auch die Perspektiven für die Anlageerträge.
Zuletzt wurde gelegentlich die Meinung vertreten, dass Inflation für die Aktienmärkte nicht grundsätzlich schlecht ist.
Die Historie sagt etwas ganz anderes. 90% der Performance des S&P 500 seit dem Jahr 1870 sind in Phasen mit unterdurchschnittlicher Inflation entstanden. In Phasen überdurchschnittlicher Inflation beliefen sich die Erträge hingegen auf magere 2% per annum. Das bedeutet nichts Gutes für die kommenden zehn Jahre. Eine hohe Inflation ist dann unschädlich, wenn sie nachfragebedingt ist und die Unternehmen die Preise auf die Verbraucher überwälzen können. Das ist aber ein spätzyklisches Phänomen und trifft auf das derzeitige Umfeld nicht zu. Bei einer strukturell beziehungsweise nachhaltig höheren Inflation gibt es schmerzhaften Druck auf die Margen. Für die Anleger bedeutet die hohe Inflation die Vertreibung aus dem Paradies, weil sowohl an den Anleihe- als auch den Aktien- und Immobilienmärkten kaum noch auskömmliche reale Renditen zu erzielen sein werden.
Mit was für Anlageerträgen können Anleger rechnen?
Wir gehen davon aus, dass an den Aktienmärkten nicht viel mehr als 2 bis 3% jährlich zu erzielen sind – in nominaler Rechnung. Real verliert man damit bei der höheren Inflation somit 1 bis 2% pro Jahr. Auf eine Dekade hochgerechnet drohen somit ernsthafte reale Vermögenseinbußen.
Worauf sollen sich Anleger unter diesen Voraussetzungen fokussieren?
Erstens – und das wird stark an Bedeutung gewinnen – ist die aktive Titelselektion zu nennen. Während die Anleger mit passiven Instrumenten die zuvor skizzierten Verluste gewissermaßen einloggen, bieten aktive Konzepte die Chance auf deutlich bessere Erträge. Anleger sollten daher die nachgewiesenermaßen erfolgreichen Assetmanager auswählen, die es verstanden haben, Unternehmen mit hoher Innovationskraft zu selektieren, denn diese werden ihre Margen erfolgreicher verteidigen können. Der zweite Eckpfeiler ist generell die fortlaufende Anpassung der Investitionsquote, also Erhöhung der Aktienquote im wirtschaftlichen Aufschwung und ihre Reduzierung im Abschwung. Dadurch werden die Verluste in Schwächephasen vermindert, während die Gewinne bei starkem Börsenumfeld abgeschöpft werden können.
Was empfehlen Sie derzeit?
Derzeit sollte man sich ganz klar defensiv aufstellen, weil wir uns auf dem Weg in eine schmerzhafte Rezession befinden, die unserer Einschätzung nach mindestens bis Mitte 2023 anhält. Gemessen daran sind die Gewinnerwartungen für 2023 viel zu hoch, entsprechend groß ist das Korrekturpotenzial. Die Tiefststände am Aktienmarkt werden daher deutlich niedriger liegen als die bisherigen. Wir erwarten den Dax Mitte 2023 bei 10 000 Punkten.
Das Interview führte