Britischer Aktienmarkt

Frostige Stimmung, heiße Chancen

Die Stimmung im Vereinigten Königreich mag so schlecht sein wie seit Jahren nicht. Doch britische Aktien sind attraktiv bewertet. Viele Firmen profitieren von einem schwachen Pfund.

Frostige Stimmung, heiße Chancen

Von Andreas Hippin, London

Großbritannien ist in diesem Jahr nichts erspart geblieben. Neben der Energiekrise musste sich das Land mit den Folgen des Operettenputsches gegen Boris Johnson auseinandersetzen. Dann starb Königin Elizabeth II., die von vielen als Symbol für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs wahrgenommen wurde. Die Stimmung könnte schlechter nicht sein. Johnsons Nachfolgerin Liz Truss setzt auf schuldenfinanziertes Wachstum und muss fürchten, dass nicht ausreichend Staatsanleihen (Gilts) am Markt platziert werden können. Denn anders als während der Pandemie will die Bank of England den von ihr seit der Finanzkrise aufgetürmten Anleihenberg nicht noch weiter erhöhen, sondern im Herbst den Abverkauf einleiten. Kein Wunder, dass die Kurse von Gilts ins Rutschen kamen. Das Pfund wertete gegen den Dollar ab. Da mag es überraschen, dass britische Aktien bei manchen hoch im Kurs stehen. Doch schlechte Nachrichten für die öffentlichen Finanzen können durchaus gute Nachrichten für Aktionäre sein.

„Extrem billig“

Der britische Aktienmarkt verlor nach dem Volksentscheid für den EU-Austritt 2016 stark. Blickt man auf das für die kommenden zwölf Monate erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis, bewegt es sich für den MSCI UK im Vergleich zum MSCI World in der Nähe des niedrigsten Niveaus seit 30 Jahren. Rechne man Banken und Energiewerte heraus, erscheine der britische Markt „extrem billig“, notierte Mislav Matejka, der Aktienstratege von J.P. Morgan, diesen Monat. Dabei seien die Analystenschätzungen für die Gewinne der FTSE-100-Gesellschaften im laufenden Jahr um ein Viertel nach oben genommen worden, mehr als für jeden anderen wichtigen Markt. Die Dividendenrendite britischer Aktien gehört zu den höchsten der Welt. Zudem mussten Anleger im Pandemiejahr 2020 im Vergleich zu anderen Ländern Dividendenkürzungen in weit größerem Umfang hinnehmen (siehe Grafik). Auf die Bilanzen der betroffenen Unternehmen wirkten sich die nicht erfolgten Ausschüttungen positiv aus. Matejka wies zudem darauf hin, dass sich die Korrelationen zwischen britischen Ak­tien und bestimmten Makrovari­ab­len verändern. Historisch betrachtet habe der Kursverlauf eine klar negative Korrelation zur Entwicklung der Anleiherenditen aufgewiesen. Be­trachte man die vergangenen Jahre, habe sich das umgekehrt. Das lege nahe, dass ein potenzieller Anstieg der Anleiherenditen kein Hindernis für die relative Performance britischer Dividendentitel sein muss.

Konsumenten profitieren

Hersteller verzichtbarer Konsumgüter, Pub- und Restaurantbetreiber sowie Unternehmen der Freizeitbranche dürften zu den unmittelbaren Nutznießern der Ankündigung der neuen Premierministerin gehören, die Energiekosten der privaten Haushalte für zwei Jahre einzufrieren. Nach früheren Vorhersagen hätten sie sich ansonsten bis April 2023 in etwa vervierfacht. Vor allem Geringverdiener hätten dann ihre Ausgaben für Kleidung, Haushaltswaren und Elektronik zugunsten von Lebensmitteln und Tiernahrung stärker herunterfahren müssen, schrieben Analysten von Liberum Capital. Nun könnten Unternehmen wie der Haushaltswarenhändler B&M, die Einwegmodekette Boohoo, Card ­Factory und die Primark-Mutter AB Foods mit höheren Umsätzen rechnen. Firmen wie die Elektrohandelskette Currys oder der Möbelhändler Made.com, deren Erlöse in der Krise bereits unter Druck geraten seien, dürften auf Linderung hoffen. Die Ankündigung von Truss sei auch für Unternehmen aus diesen Branchen­ wichtig, die einen Großteil ihres Umsatzes im Schlussquartal machen – der Schokoladenproduzent Hotel Chocolat etwa oder die Weinhändler Naked Wines und Virgin Wines.

Auch Unternehmen, die einen Großteil ihrer Erlöse in Dollar erwirtschaften, dürften zu den Gewinnern der aktuellen Entwicklung gehören. Zu ihnen gehört das schottische Softwareunternehmen Craneware, das sich auf die Automatisierung von Abläufen im Gesundheitswesen spezialisiert hat und nahezu seinen gesamten Umsatz in den Vereinigten Staaten erwirtschaftet. Auch die Ashtead Group, die Hebebühnen und andere Maschinen vermietet, der Schulbuchverlag Pearson und der Kreuzfahrtanbieter Carnival machen mehr als die Hälfte ihres Geschäfts in der US-Währung. Manche dieser Firmen weisen ihre Geschäftsergebnisse in Dollar aus. Deshalb sind die Wechselkurseffekte nicht immer sichtbar. Doch ihre Aktien sind in Pfund notiert, d. h. das Ergebnis je Anteilschein muss in Pfund umgerechnet werden, wenn man das Kurs-Gewinn-Verhältnis ermitteln will. Auch sonst dürften FTSE-100-Gesellschaften von einem schwächeren Pfund profitieren. Fast vier Fünftel ihrer Einnahmen stammen von jenseits der Grenzen des Vereinigten Königreichs. Ängste vor einer Währungskrise, die mit Blick auf die schwache Leistungsbilanz des Landes immer wieder aufkommen, sind übertrieben. Dafür dürfte die Re­naissance der Öl- und Gasförderung in der Nordsee sorgen, die Truss derzeit mit einer neuen Lizenzvergaberunde einläutet. Davon profitieren auch kleinere Explorationsunternehmen wie Angus Energy oder Indus Gas.

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