„Jetzt beginnt eine Neubewertung“
Daniel Zulauf.
Herr Grübel, wir sprachen vor einem Jahr an dieser Stelle von einer großen, schuldenfinanzierten Spekulationsblase. Ist diese mit der Korrektur im vergangenen Jahr nun geplatzt?
Ja, viele der Spekulationsobjekte haben 80% und mehr an Marktwert verloren. Denken Sie an die Blankoscheckfirmen (genannt Spacs, Anmerkung der Redaktion) oder an die Misere der Kryptotoken, deren Erfolg davon abhing, dass Geld während langer Zeit zu null Zinsen verfügbar war. Aber auch die großen, hoch bewerteten Firmen wie Apple, Tesla, Microsoft, Google, Meta et cetera, haben zwischen 40% und 80% eingebüßt. Jetzt beginnt eine Neubewertung der Aktien in Relation zu den Zinsen. Das erzeugt große Marktschwankungen, weil man noch sehr unsicher ist, wie hoch die Zinsen steigen können. Einige Analysten glauben an eine nahe Rezession und damit an wieder tiefere Zinsen, andere erwarten höhere Zinsen für eine längere Zeit im Zuge der Inflationsbekämpfung. Die westlichen Zentralbanken haben erklärt, dass ihr Inflationsziel 2% ist. Das ist ohne Rezession vielleicht in der Schweiz möglich, aber eher unwahrscheinlich im restlichen Europa oder in den USA.
Sie erwarten also keine raschen Erfolge im Kampf gegen die Inflation.
Rein technisch wird die Inflation in diesem Jahr zurückgehen, in Europa vielleicht auf 5% und in den USA auf etwa 4%, aber um auf die angestrebten 2% zu kommen, wird es ohne Rezessionen noch lange dauern. Die Zentralbanken müssten die Liquidität reduzieren, aber gleichzeitig müssen viel höhere Staatsschulden und Zinskosten refinanziert werden. Das ist ein Konflikt, der zu höheren Zinsen führt. In Europa haben wir zusätzliche Sondereffekte. Die höheren Energiekosten, die durch den Krieg in der Ukraine entstehen, belaufen sich auf Jahresbasis gerechnet, auf etwa 1 Bill. Euro. Dazu kommen substanziell höhere Verteidigungsausgaben, Infrastrukturinvestments im Energiebereich und Lohnerhöhungen, die alle finanziert werden müssen.
Immerhin stehen nun fast alle großen Notenbanken auf der Bremse.
Das ist richtig, sie wollen verhindern, dass die Inflation noch weiter steigt. Ihnen hilft, dass weder in den USA noch in Europa die Wirtschaft robust wächst und die Steuereinnahmen der Staaten mit der Inflation stark gestiegen sind. Jetzt müssen sie nur noch den Kreditbedarf der Staaten, ohne Rezessionen zu kreieren, finanzieren.
Was denken Sie?
Das ist die schwierigste Aufgabe, die die Zentralbanken in den abgelaufenen zehn Jahren hatten. Die vergangenen Krisen hat man mit null Zinsen und einer Erhöhung des Geldumlaufs gelöst. Ich glaube nicht, dass man das noch einmal wiederholen kann ohne zusätzliche Inflation. Die Federal Reserve Bank der USA hat klar kommuniziert: Zinsen werden so lange hoch bleiben, bis 2% Inflation erreicht ist. In Anbetracht der wirtschaftlichen Situation, in der der Westen ist, wird das zu Rezessionen führen. Die Staatsfinanzierung wird die Wirtschaftsfinanzierung erheblich verteuern und Kreditverluste werden steigen. Die Aktienmärkte werden sich den höheren Zinsen anpassen und fallen.
Die Notenbanken kämpfen auch um ihre eigene Glaubwürdigkeit. Sie bezweifelten vor einem Jahr, dass die Notenbanken ein großes Interesse daran haben, die Zinsen substanziell zu erhöhen. Wie sehen Sie das jetzt, nach Beginn der Zinswende?
Die Europäische Zentralbank ist bei einem Leitzins von 2,5% angelangt. Die Inflation steht aber bei 10%. Bei diesem Zinsniveau sehe ich nicht einmal den Hauch einer Chance, dass die EZB die Inflation in den Griff bekommen kann, außer wir gehen in eine Rezession. In den USA steht die Inflation bei 8%, der Leitzins bei knapp 4,5%. Das ist besser als in Europa, aber eine zehnjährige Staatsanleihe rentiert auch in den USA noch weniger als 4%. Die hoch verschuldeten Staaten können sich immer noch verhältnismäßig günstig refinanzieren. Der hohe Schuldenstand zeigt, dass wir in den vergangenen Jahren weit über unseren Verhältnissen gelebt haben.
Stellen Aktien einen wirkungsvollen Schutz gegen die hohe Inflation dar?
In speziellen Situationen schon, wenn ein Land die Währung entwertet und die Kontrolle über die Inflation verliert, flüchtet man in Sachwerte wie Aktien. Der türkische Aktienmarkt ist 2022 um über 100% gestiegen – in Dollar gerechnet. Aber ich glaube nicht, dass wir das wollen.
In den langen Aufwärtsphasen der Aktienmärkte in den vergangenen Jahrzehnten hörte man oft den Rat, langfristig zu investieren, also Aktien zu kaufen und sie quasi für ewig im Schrank aufzubewahren. Hat die Buy-and-Hold-Strategie nun ausgedient?
Die Buy-and-Hold-Strategie hat in den vergangenen 70 Jahren mit Investitionen in Unternehmen, welche die 70 Jahre überlebt haben, meistens funktioniert. Sie mussten aber trotzdem Entscheidungen treffen, welche Aktien Sie kaufen und welche Sie verkaufen wollen, wenn sich das wirtschaftliche Umfeld für die Unternehmen geändert hat. Zudem hängt es auch vom eigenen Alter ab, wie man „langfristig“ definiert. Der Ausdruck kann „ein paar Jahre“ oder auch „ein paar Jahrzehnte“ bedeuten. Auch die Mathematik spielt eine Rolle: Ein Verlust von 50% erfordert einen nachfolgenden Gewinn von 100%, damit man wieder dahin kommt, wo man vorher war. Wer zum Beispiel im Jahr 2007 Aktien gekauft hat, musste bis 2013 warten können, um wieder zum Einstandspreis zu gelangen. Meine Erfahrung ist die: Leute, die von sich behaupten, langfristig investiert zu sein, benutzen das Argument als Ausrede dafür, den Trendwechsel verpasst haben. Seit 2020 haben uns die Aktienmärkte wieder einmal gezeigt, wie unvorhersehbar sie sein können und was für große Preisschwankungen äußere Einflüsse auslösen können. Deshalb halte ich es mit der Devise: Wer Aktien hat, muss sich über den Markt informieren, um gegebenenfalls handeln zu können.
Mit der Credit Suisse könnte im Frühjahr ein Urgestein aus dem Swiss-Market-Index der 20 wertvollsten Publikumsgesellschaften in der Schweiz herausfallen. Wie werten Sie diese Aussicht?
Es wäre schade, wenn es so weit käme. Sollte die Credit Suisse nicht in einer auch im internationalen Vergleich nennenswerten Größe weiterexistieren können, dann würde dies auch eine Rückstufung des Schweizer Finanzplatzes bedeuten. Die Krise der Credit Suisse ist leider das Ergebnis einer Serie von Management-Fehlentscheidungen in den vergangenen zwölf Jahren. Europäische Banken haben seit der Finanzkrise große Marktanteile an die US-Banken verloren. Die sechs größten Banken in den USA haben seit 2013 Gewinne von 1 Bill. Dollar erwirtschaftet. Das ist ein Rekord.
Wie werten Sie die Aussichten der Finanzbranche aus Anlegersicht?
Aufgrund der Inflationsbekämpfung der Zentralbanken müssen die Banken mit einer Liquiditätsverknappung, Kreditausfällen und niedrigeren Beratungs- und Finanzierungseinnahmen rechnen, aber sie werden höhere Zinserträge haben. Das Geschäftsumfeld für Banken wird anspruchsvoller. Es ist davon auszugehen, dass die Erträge in der Finanzbranche größere Schwankungsbreiten haben werden.
Gibt es Märkte, die Sie meiden oder bevorzugen?
Ich bin besonders vorsichtig mit Märkten, die wenig liquide sind. In Bezug auf Liquidität müssen die europäischen Aktienbörsen noch viel von den amerikanischen Börsen lernen. Die amerikanischen Börsen wissen, dass ihnen mehr Liquidität auch mehr Geschäft bringt. So sinken die Gebühren, verbessert sich die Transparenz und generell nimmt die Zufriedenheit der Kunden zu. Deshalb ist der amerikanische Aktienmarkt zum Leitmarkt in der Welt geworden. Im Jahr 2022 sind der amerikanische S&P-500-Index, der deutsche Dax und der schweizerische Swiss-Market-Index in Schweizer Franken gerechnet, mit Unterschieden von nur 2 bis 3% gleichgelaufen. Die Amerikaner tun alles, um ihren Börsen zusätzliche Liquidität zuzuführen, wie auch die dort besonders große Verbreitung des Computerhandels zeigt. Uns Europäern steht der Sinn dagegen immer noch nach mehr Regulierung, höheren Gebühren und Steuern. Das ist ein Eigentor. In Europa schaden wir unseren Kapitalmärkten und damit unserer Wirtschaft.
Das Interview führte