Negativjahrzehnt verändert Märkte
Von Kai Johannsen, Frankfurt
Am 30. November 2011 war es so weit. Ein ehemals zweijähriges festverzinsliches Bundeswertpapier (Bundesschatzanweisung), das zu jenem Zeitpunkt noch eine Restlaufzeit von rund einem Jahr hatte, wies um 17:30 MEZ – zu diesem Zeitpunkt stellt die Nachrichtenagentur Reuters das Closing für den Tag fest – eine negative Rendite von 0,02% auf. Das bedeutete: Am Sekundärmarkt waren Anleger erstmals bereit, mehr für dieses Bundeswertpapier zu bezahlen, als sie am Ende der Laufzeit zurückbekamen. Sie bezahlten also Zinsen in Form von höheren Kursnotierungen und waren nicht nur bereit, auf Zinsen zu verzichten, sondern sogar eine Parkgebühr zu berappen. Tags zuvor schwankte der Markt in diesen einjährigen Laufzeiten zwar schon um die Nulllinie, d.h., die Renditen waren im Tagesverlauf zeitweise negativ, aber in der Schlussnotiz war der Markt dann wieder bei positiven Zinsen. Bund-Kredit zum Negativkredit war Realität geworden, was an den Märkten für Irritationen sorgte. „Das ist doch nicht normal“, lautete es vielfach. In den Folgetagen waren wiederholt negative Bundrenditen am kurzen Marktende zu beobachten, aber der Markt kehrte immer wieder ins Positive zurück.
Bund programmiert um
Die Deutsche Finanzagentur, die für das Liquiditäts- und Schuldenmanagement des Bundes verantwortlich ist, reagierte in den folgenden vier Wochen und programmierte das Bund-Bietungs-System (BBS) um. Über dieses BBS arbeitet der Bund-Schuldenmanager am Primärmarkt mit den Banken aus der Bietergruppe Bundesemissionen zusammen, d.h. hierüber geben die Banken ihre Gebote in den Auktionen für die einzelnen Bundeswertpapiere ein. Dieses technische System ließ es Ende 2011 aber nicht zu, dass die Banken höhere Kurse, also über Nominal und Zins, in das System eingeben konnten. Das System lehnte eine derartige Kurseingabe getreu der Devise ab: Dann würde der Zins, sprich die errechnete Rendite des Bundespapiers, ja negativ werden. Das wurde geändert, und bei der ersten Geldmarktauktion des Bundes am 9. Januar 2012, als ein Papier mit sechs Monaten Laufzeit zur Versteigerung anstand, wurde die Rendite im Auktionszeitpunkt ebenfalls negativ, und zwar bei 0,0122%. Banken waren also auch am Primärmarkt, gleich bei der allerersten Auktion, die so etwas technisch überhaupt erst zuließ, bereit „Parkgebühren“ zu bezahlen. Der Bund verdiente als erster Staat weltweit mit der Versteigerung von Schuldpapieren.
Viel wurde in der Folgezeit diskutiert. Sollte vielleicht auch mal der Kupon negativ werden? Das wurde schnell seitens des Finanzministeriums vom Tisch gewischt. Denn das hätte bedeutet: Ein negativer Kupon hätte vom Gläubiger bedient werden müssen. Anleger müssten dem Finanzministerium zum Zinstermin die Zinsen überweisen. Der Öffentlichkeit wäre das kaum zu vermitteln gewesen. Man stelle sich Eltern vor, die ihrem Kind das Sparen näherbringen wollen und nach einem Jahr ihr Kind für das „Nichtgeldausgeben“ loben und ihm erklären, dass es zum Dank etwas dem Finanzministerium überweisen darf.
In den folgenden Monaten und Jahren ging es Schlag auf Schlag. Bei immer mehr Emittenten tauchten die Zins- bzw. Renditenstrukturkurven in den negativen Bereich, aufgrund der normalen Zinsstruktur selbstredend vom kurzen Marktende her. Es wurde normal, dass die Renditen von Emittenten – zunächst guter bzw. sehr guter Bonität – negativ waren. Anfang August 2019 gab es einen weiteren großen Meilenstein: Die 30-jährige Bundrendite war bis an die Nulllinie herangekommen und tauchte am Freitag, den 2. August um kurz nach 12 Uhr MESZ, in den Minusbereich ab. Der Markt der Bundesanleihen lieferte sich am langen Marktende, also bei den 30-jährigen Titel, seinerzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Niederländern, deren Kurve sich in diesem Laufzeitenpunkt ebenfalls an die Nulllinie vorgearbeitet hatte, aber dann doch nicht ins Minus fiel. Deutschland schlug Holland. In den folgenden Monaten war bei immer mehr Staaten das Abtauchen der kompletten Renditestrukturkurven in den Negativbereich zu beobachten. Natürlich schlagen solche Effekte im gesamten Portfolio eines Staates nur sehr langsam durch, schließlich wurden ja in den Jahren zuvor immer positive Zinsen bezahlt. Auch die Notenbanken „freundeten“ sich mit Negativzinsen an, um Banken zu mehr Kreditvergabe zu ermuntern, und ihnen das Parken der Gelder bei der Zentralbank zu vermiesen. Banken geben heute Negativzinsen längst an die Kundschaft weiter, wenn auch nicht alle Institute an alle Kunden.
Die große Jagd nach Rendite
In den zehn Jahren mit Negativzinsen bzw. -renditen von Anleihen aller Art fand und findet eine beispiellose Jagd nach Rendite statt. Anleger sind in diesem Prozess zum einen die Laufzeitenkurve immer weiter nach oben gegangen, da es bei längeren Laufzeiten für diese längere Kreditüberlassung noch positive Renditen gab. Damit gingen sie aber auch das Risiko der längeren Bindung ein. Staaten gingen als Antwort darauf auf der Angebotsseite in immer längere Laufzeiten. Mexiko offerierte 100-jährige Bonds, Nordrhein-Westfalen ebenfalls, um nur zwei Beispiele zu nennen. Zum anderen gingen die Investoren verstärkt in schwächere Qualitäten, also Emittenten mit schlechterer Kreditwürdigkeit, was ein entsprechendes Risiko bedeutet. Das Ergebnis war vieler Orten zu beobachten: Auch in längeren Laufzeiten und schlechteren Ratingklassen kamen die Renditen immer weiter zurück, bis sie ebenfalls an der Nulllinie oder im Minusbereich ankamen. Zusammen mit den breit angelegten Käufen der Notenbanken kam es zum Crowding-out der Investoren in andere Bondmarktsegmente. Ein Prozess, der mit entsprechenden Verzerrungen bis heute anhält. Bis heute handeln weltweit Anleihen – gemessen am entsprechenden Bloomberg-Index – im Umfang von ca. 12 Bill. Dollar im negativen Bereich.
Dieser Prozess hat das Problem gewaltig gewachsener Schuldenberge mit sich gebracht. Damit einher geht die Frage, wie es um die Tragfähigkeit solch gigantischer Schulden künftig bestellt sein wird. Schuldenmachen erscheint angesichts negativer Zinsen attraktiv. Noch macht sich kein Marktteilnehmer wirklich Gedanken um diesen Sachverhalt. Doch wann wird dieser Aspekt an den Bondmärkten einmal anders gesehen? Die Gefahr besteht darin, dass die Situation einmal neu bestimmt wird, dass eine andere Beurteilung des Sachverhalts eintritt und womöglich die ersten großen Adressen aussteigen und andere dadurch zum Umdenken bewegen. Dann kann es sehr schnell gehen. Dann wollen auf einmal alle mit einem großen Koffer voll Bonds durch die gleiche Tür. Das wurde 2018 schon auf der Jahrestagung der International Capital Market Association thematisiert. An den Märkten ist das aber noch nicht angekommen.