Nichts für schwache Nerven
Von Sabrina Keßler, New York
Das neue Jahr beginnt an der Wall Street mit einem Paukenschlag. Denn plötzlich heißt es „Finger weg“ von den Favoriten des abgelaufenen Börsenjahres. Vor allem großkapitalisierte Wachstumswerte flogen zum Jahresauftakt gleich reihenweise aus den Depots institutioneller Investoren. „Priced to perfection“ bringt nun mal Risiken mit sich.
Zyklische Substanzaktien, vor allem Banken und Energietitel, sind dagegen im Aufwind. Im Vergleich zu Wachstumswerten starteten die Value-Aktien so gut wie zuletzt vor 26 Jahren ins neue Jahr. Ähnlich kräftige Impulse gehen derweil von den Bondmärkten aus: Auch hier rotiert es mächtig. Die Rendite zehnjähriger Treasury-Papiere etwa notierte Ende vergangener Woche das erste Mal seit Ausbruch der Pandemie über der Marke von 1,8%.
US-Investoren scheinen sich einig zu sein: Die Wall Street steht in diesem Jahr vor enormen Herausforderungen. Zwar gibt das Coronavirus kaum noch Grund zur Sorge – Impfungen und milden Krankheitsverläufen sei Dank. Die Folgen der Krise aber, Inflation und steigende Zinsen, entwickeln sich zum Pulverfass. Um stolze 7% haben die Verbraucherpreise im Dezember zugelegt, ein Vierzigjahreshoch. „Diese Risiken erfordern einen flexiblen Ansatz“, kommentiert Vincent Chaigneau, Chefanlagestratege von Generali Investment. „Taktische Asset Allocation, Hedging und Alpha-Generierung werden immer wichtiger.“
Die geänderten Machtverhältnisse kommen nicht überraschend, wenn auch plötzlich. Schließlich zeigten sich die US-Börsen bis zuletzt immun gegen jegliche Unsicherheiten. Allen Virus- und Lieferkettensorgen zum Trotz erklomm der S&P500 im abgelaufenen Jahr wiederholt Rekorde.
Fed unter Zugzwang
Doch mit Blick auf 2022 ändern sich die Vorzeichen. Denn die von der US-Notenbank bereitgestellte Liquidität könnte schneller abnehmen, als es der Wall Street lieb ist. Jüngste Sitzungsnotizen belegen, dass die Fed angesichts der Entwicklungen von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Inflation einen rascheren Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik anstreben wird. „In den Protokollen ist ein Gefühl von unterschwelliger Angst bzw. Panik zu erkennen“, schreibt Diane Swonk, Chef-Ökonomin bei Grant Thornton, auf Twitter. Dass die Notenbank unter enormem Zugzwang steht, bestätigte auch Jerome Powell vor kurzem. Bei einer Anhörung vor dem US-Senat gab der oberste Währungshüter zu, Probleme beim Preisauftrieb und den Lieferketten unterschätzt zu haben.
Man werde „alle Instrumente nutzen, um die US-Wirtschaft und den Arbeitsmarkt zu stützen und um zu verhindern, dass sich die Inflation festsetzt“, sagte der Notenbankchef am Dienstag. Die hochansteckende Omikron-Variante habe gezeigt, dass es noch monatelang zu Verzögerungen kommen könnte. Den Börsen droht damit eine Vollbremsung, sowohl geldpolitisch als auch fiskalisch. Denn nach dem Auslaufen der Anleihekäufe könnten laut dem Investmenthaus Goldman Sachs gleich vier Zinsschritte folgen – allein in diesem Jahr. Die erste Erhöhung preisen die Fed Funds Futures derzeit mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% für März ein. Nur wenig später dürfte die Notenbank auch mit dem Abschmelzen ihrer Bilanzsumme beginnen, die durch umfangreiche Anleihekäufe zuletzt auf rund 8,8 Bill. Dollar angeschwollen war.
Bedingungslose Rückendeckung wird es auch von der Fiskalpolitik nicht mehr geben. Schließlich läuft ein Großteil der Konjunkturhilfen bald ohne Aussicht auf Verlängerung aus. Zum Jahresende wird das Haushaltsdefizit der US-Regierung von 2,8 auf 1,6 Bill. Dollar zusammenschrumpfen. Einige Ökonomen befürchten, dass diese fiskalische Straffung die Wirtschaft stärker bremsen könnte als bislang angenommen: Nur noch 3,8% soll das Wachstum 2022 betragen.
Somit steuern die Märkte auf eine längst überfällige Korrektur zu. „Wir erwarten in diesem Jahr einstellige Aktienrenditen und einen Kurseinbruch von 10%“, sagt Bob Doll, Chefstratege beim Anlageberater Crossmark Global Investments. Es sei zwar unwahrscheinlich, dass die Korrektur bereits im ersten Quartal zuschlage, dafür seien die saisonalen Trends zu stark. „Dennoch gehen wir davon aus, dass uns ein ausgesprochen volatiles, frustrierendes und trendloses Jahr bevorsteht.“
Einen Lichtblick aber gibt es, zumindest historisch betrachtet. Denn statistisch gesehen schneiden amerikanische Aktien im ersten Jahr einer Zinserhöhung vergleichsweise gut ab. So zeigen Daten der Deutschen Bank, die bis ins Jahr 1955 zurückreichen, dass der S&P500 in den zwölf Monaten nach der ersten Anhebung im Schnitt ein solides Wachstum von 7,7% verbuchen kann. Im Anschluss aber verzeichne der Leitindex über ein Jahr lang keine positiven Renditen.
Die aktuellen Prognosen der Wall Street sind mit Vorsicht zu genießen. Denn zu oft liegen die Analysten daneben,. Glaubt man den 14 größten US-Finanzhäusern, soll der S&P500 bis Jahresende im Mittel auf 5075 Punkte klettern. Allerdings errechnete das „Wall Street Journal“, dass die Profis mit ihren Schätzungen in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt um 13% danebenlagen.
Mehr Gelassenheit nötig
Nicht wenige mahnen ohnehin zu mehr Gelassenheit in diesen unsicheren Zeiten. „Wir betrachten die jüngste Volatilität nur als Anpassung an die restriktivere Geldpolitik und nicht als Zeichen dafür, dass die Aktienrally abrupt enden wird“, sagt Mark Haefele, Chief Investment Officer von UBS Global Wealth Management. Selbst vor dem Hintergrund einer geldpolitischen Normalisierung würden die Erträge von Corporate America weiter steigen. Auch Alternativen zu Aktien seien vorerst nicht in Sicht. Erst wenn die Rendite der zehnjährigen US-Anleihe über die Marke von 2,5% springe, werden Investoren Bonds „zur Kenntnis nehmen“, glaubt der Finanzexperte.