Russland zwingt zum Umdenken
Von Wolf Brandes, Frankfurt
Im Bereich der Nachhaltigkeit schauen die ESG-Analysten auf soziale Faktoren wie Menschenrechte und bewerten auch die Aktivitäten von Staaten. Doch die Invasion Russlands in die Ukraine haben die Fachleute genauso wenig kommen sehen wie andere Beobachter. „Insofern ist es unfair, dies den Research-Häusern vorzuwerfen“, sagt Carlo Funk, der bei State Street die ESG-Investmentstrategie für die Region EMEA leitet. Seiner Ansicht nach sind ESG-Bewertungen immer nur eine zusätzliche Informationsquelle, die in die Einschätzung von Marktrisiken einfließt. „Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass ein ESG-Rating alles andere dominieren würde.“
Der Krieg änderte die Perspektive stark. Nach der Invasion stuften die grünen Research-Häuser Russland bei ESG-Rating massiv herab. Darüber hinaus gab es beispielsweise eine ESG-Herabstufung für Unternehmen im MSCI Russia.
ESG-Modell überprüfen
Für Funk ist klar, dass jetzt bei ESG-Länderratings Assetmanager und Analysten fragen müssten, welches Risiko von autokratischen Staaten ausgehe. „Die Modelle sollten überprüft werden. Aber der Russland-Ukraine-Krieg sollte natürlich nicht dazu führen, alle ESG-Bewertungen über den Haufen zu werfen. Vielmehr zeigt es auf, wie wichtig es für Investoren ist, sich genau darüber Gedanken zu machen, wo Grenzen für eine Investition zu ziehen sind“, sagt der ESG-Stratege. Eine solche Grenze seien ohne Zweifel Sanktionen. Die Sanktionen waren für viele Fondsgesellschaften der Grund, Russland auszuschließen. Der norwegische Government Pension Fund Global hat nach der Invasion alle Investitionen in Russland eingefroren, doch der Verkauf gestaltet sich in dieser Marktphase schwierig. Der Staatsfonds war Ende 2021 an 51 russischen Firmen beteiligt, was 0,2% der Fondsvermögen ausmachte. Seitdem ist der Wert der Positionen um mindestens 90% gefallen.
Kritiker meinen, dass schon nach der Annexion der Krim 2014 Investoren ihren Lehren hätten ziehen müssen. Einige niederländische Pensionsfonds haben Ende 2020 russische Staatsanleihen aus den Portfolios verbannt. Für Funk gab es schon immer ein breites Spektrum von ESG-Bewertungen. „Insofern stand es jedem Assetmanager frei, russische Staatsanleihen auszuschließen. Die Frage ist, warum. Das können moralische und ethische Überlegungen sein oder finanzielle Gründe“, sagt er. Der Kern der meisten ESG-Analysen ziele aber wesentlich auf finanzielle Aspekte ab. „Der Überfall von Russland auf die Ukraine ist ein Schock-Event, der sich für viele wie ein Schlag ins Gesicht anfühlt – und das nimmt die ESG-Branche nicht aus. Dass so etwas bei so einem bedeutenden Emerging Market passiert, kommt glücklicherweise nur sehr selten vor.“
Gute und schlechte Firmen
Klar differenzieren Assetmanager und Analysten zwischen Länderbewertungen und Firmenbewertungen im ESG-Kontext. Die meisten ESG-Analysen fokussieren sich auf Unternehmen. Dabei geht es um sogenannte „Key Performance Indicators“, also diejenigen ESG-Aspekte, die für eine gewisse Branche den größten finanziell-materiellen Einfluss haben. Diese KPIs sind allgemein je nach Branche und Region unterschiedlich zu sehen. Funk nennt ein Beispiel: „Für einen Spielzeughersteller in Deutschland oder in Russland sind diese KPIs erst einmal grundsätzlich dieselben. Jetzt ist zu überlegen, ob die Region bzw. der Staat, in dem der Umsatz erzielt wird, künftig stärker beachtet werden muss.“
Kontroversen in neuem Licht
In der Folge der russischen Aggression müssen Assetmanager auch den Energiebereich neu bewerten. „Um die Energiesicherheit zu gewährleisten, wird es für eine gewisse Zeit einen Rückgriff auf traditionelle Energieressourcen geben. Im Nachhinein ist es bedauerlich, dass nicht schon längst mehr erneuerbare Energien installiert wurden. Dann wäre unser Problem jetzt kleiner“, sagt Funk. Nichtsdestotrotz ändere sich durch einen Krieg der Pfad hin zu netto null Emissionen nicht. „Die Anstrengungen müssen aggressiver sein.“
Die Akzeptanz von Kernkraft und Erdgas für einen langfristigen Übergang könnte für die Anlagebranche ein dauerhaftes Ergebnis des Konflikts sein. Aber auch andere Segmente wie der Schiefergas-Sektor und LNG sind neu zu bewerten.
Genauso wie es Unternehmen für fossile Brennstoffe geben wird, sind Rüstungsunternehmen als Investment nun stärker in den Fokus gerückt und werden auch hinsichtlich ESG neu zu bewerten sein. Ein Unternehmen wie Rheinmetall war vorher für die meisten Nachhaltigkeitsmanager tabu, obgleich es innerhalb seiner Klasse gut abschnitt. „Der Krieg und die Diskussion um Waffen zeigt auf, wie fragil oft die Unterscheidung in gut und schlecht ist“, sagt Funk. Klarheit gebe es nur in wenigen Punkten, wie Menschenrechtsverletzungen und kontroverse Waffen. „Bei Thema Rüstung zeigt sich schon, wie schnell sich Meinungen ändern.“
Bei State Street gebe es Portfolios, bei denen Waffen nach den Vorgaben der Kunden ausgeschlossen sind. „Ich habe aber noch keinen Investor gesehen, der in den vergangenen Wochen seine Richtlinien gravierend geändert hätte. Das Thema Waffen, zumindest Militärwaffen, wird momentan neu diskutiert.“
Als Beispiel nennt Funk eine Pensionskasse der Polizei. „Die Diskussion über den Ausschluss von Waffen in der Anlagestrategie ist hier sicherlich eine andere als zum Beispiel für einige Stiftungen im philanthropischen Bereich – alles andere wäre absurd.“ Sein Fazit: Auch beim Thema fossile Energie und Waffen müsse man sehr differenziert vorgehen, denn ESG eigne sich nicht für Vereinfachungen.